Die alte japanische Goldgräber-Stadt Jiufen bietet koloniales Flair und taiwanische Tempel mit Aussicht.

Die alte japanische Goldgräber-Stadt Jiufen bietet koloniales Flair und taiwanische Tempel mit Aussicht.
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Taiwan: Das beste aus drei Welten

Taiwan ist ein fast unentdeckter Schatz: eine einmalige Mischung aus pazifischer Inselkultur, Japan und China ohne kommunistische Diktatur.

In Tainan, der alten Hauptstadt Taiwans im Süden der Insel, bereiten die Bewohner zwei Mal im Jahr ein Festessen für ihre Ahnen zu. An diesen Tagen kommen die Geister der Toten zurück aus der Unterwelt und können von den Lebenden befragt werden – allerdings erst, nachdem sie ausgiebig bewirtet wurden. Vor den Tempeln werden daher riesige Festtafeln errichtet: eineinhalb Meter hoch, zwei Meter breit und mitunter bis zu 100 Meter lang machen sie ganze Straßen für einen Tag unpassierbar.

Wenn sie frühmorgens aufgebaut werden, erinnern sie zunächst eher an gewaltige Laufstege für eine Modenschau denn an Tische. Dann aber bringen Hunderte freiwillige Helfer nach und nach die Gaben für die Toten: Reiscracker und gebratene Erdnüsse, tropische Früchte von reifen Papayas bis zu duftenden Ananas, Schüsseln voll gedämpftem Klebreis mit Krabben, frittierte Fische, lang wie ein Arm, Platten voll frischer Würste und ganz am Ende ganze, ausgenommene Schweine, für den festlichen Anlass mit Räucherstäbchen in den Nasenlöchern geschmückt. Für die Lebenden gibt es währenddessen eine Straße weiter chinesische Opern – von fahrenden Gauklertruppen aufgeführt – und jede Menge Feuerwerk.

Einmalige Mischung der Kulturen

Feste wie diese sind einer der vielen Gründe, warum Taiwan eine fantastische Insel ist, in beiden Bedeutungen des Wortes. Eine alte pazifische Inselkultur trifft hier auf China und Japan – über die vergangenen 400 Jahre hat sich daraus eine einmalige Mischung geformt. Eine Reise hierher ist ein Fenster in eine andere Zeit und Welt, die es so sonst nirgendwo gibt. Es ist ein tropisches Japan, ein kommunismusfreies China, und eine der ältesten Pazifischen Kulturen. Bis heute haben hier Teile des alten China überlebt – auch, weil die Insel von 70 Jahren Kommunismus verschont geblieben ist. Hier werden die alten Religionen Taoismus, Buddhismus und die Konfuzius-Verehrung genauso gepflegt wie unzählige regionale Kulte und die Ahnenverehrung mit ihren tausenden Göttern und Geistern. Hier haben all die alten kulinarischen Traditionen überlebt, die auf dem kommunistischen Festland so lange als Bourgeois verfolgt und unterdrückt wurden.

Am deutlichsten sicht- und spürbar werden alte Traditionen in Tainan, der ehemaligen Hauptstadt der Insel, wo einst die Holländer ihre erste Handelsniederlassung aufbauten. Hier gibt es so viele Tempel, dass man mitunter den Eindruck hat, durch eine religiöse Stätte und nicht durch eine Stadt zu spazieren. Manche sind groß wie ein Häuserblock und drei Stockwerke hoch, andere so winzig, dass sie in den hohlen Stamm eines alten Baums passen. In den beliebtesten knien noch spätnachts die Betenden vor den Altären, zünden Räucherstäbchen an und werfen Jiaobei, die halbmondförmigen Holzsteine, die die Zukunft voraussagen können.

Durch die verwinkelten Straßen ziehen fast täglich Prozessionen, bei denen Götterpuppen von einem Tempel zum anderen getragen, Trompeten geblasen, Gongs geschlagen und jede Menge Feuerwerke gezündet werden. Die Stadt hat eine mystische Aura und Atmosphäre, die im großen China am Festland so kaum erlebt werden kann und mehr an das Ufer des Ganges in Varanasi, die immer noch benutzten Tempel Bagans oder die orthodoxen Kathedralen Kiews erinnert.

Oktopussuppe & gebratener Aal

Viele taiwanische Besucher kommen aber noch aus einem anderen Grund nach Tainan: wegen des tollen Essens. Die Stadt gilt als die traditionelle kulinarische Hauptstadt Taiwans. Jedes Wochenende fluten Tausende Menschen aus Taipeh die Straßen, um hier zu schlemmen, an den berühmten Frühstücksständen bilden sich bereits um sechs Uhr lange Warteschlangen. Heiß begehrt ist etwa die traditionelle Tainaner Rindsuppe, ein dunkles Fleischelixier mit ganz viel Ingwer. Mittags ziehen die Mengen weiter zu Oktopussuppe und Reis mit den berühmten süßen Shrimps aus der Bucht nördlich der Stadt, und abends warten Nudeln mit gebratenem Aal. Viele beenden die Esstour bei einem der zahlreichen tropischen Fruchtgeschäfte, die in der schwülen Nachtluft ganz besonders süß duften.

Wer lieber im Restaurant speist, der kann sich auf den ganzen Reichtum des Meeres freuen: In und um Tainan wird alles verkocht, was aus dem Wasser kommt. In bester chinesischer Tradition richten Fischrestaurants ihre – großteils lebende – Ware auf einer Art Buffet an: Gäste wählen aus Bottichen voller Muscheln und Schnecken, Becken mit Krabben und Krustentieren und Aquarien voll Fischen, Schildkröten und sonstigem Wassergetier und bekommen alles ganz frisch zubereitet. Für Tierschützer ist das mitunter kein Genuss – schmecken tut es aber fantastisch.

Ganz viel japanische Kultur

Was Tainan für das alte Taiwan ist, ist Taipeh für das moderne: Die neue Hauptstadt im Norden fühlt sich viel, viel größer an, als ihre offiziell 2,6 Millionen Einwohner vermuten lassen würden – sie hat ein Weltstadtflair, das vielmehr an New York oder Tokio als an das auf dem Papier annähernd gleich große Wien erinnert. Es gibt Whiskybars, die erst um Mitternacht aufsperren, Buchhandlungen, die 24 Stunden geöffnet sind, viele Straßen, vor allem die berühmten Night Markets, die auch spätnachts noch schwarz vor Menschen sind. Und noch mehr als im Süden wird hier der starke japanische Einfluss spür- und sichtbar.
Taiwan war 50 Jahre lang, von 1895 bis 1945, japanische Kolonie. Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Kolonialmächten und im krassen Unterschied zum chinesischen Festland werden die Japaner und die japanische Kultur auf der Insel allerdings bis heute hoch geschätzt – weil das, was nach ihnen kam, für viele deutlich schlimmer war als die Besatzungszeit. Verstärkt wird das noch durch den Zuzug vor allem junger Japaner, die hier Geschäfte und Restaurants eröffnen.

Japanisches Design und japanische Ess- und Trinkkultur sind allgegenwärtig: von minimalistischen Cocktailbars, die nur von Kerzenlicht beleuchtet werden und in denen der Barkeeper im weißen Anzug schweigend Drinks mixt oder Eiswürfel mit der Hand schnitzt, über schicke Third-Wave-Cafés bis hin zu herrlich verrucht wirkenden Izakayas – japanischen Beisln – oder Yakitori-Läden in dunklen Seitengassen, in denen grandiose Hühnerspieße gegrillt werden. Beim Sushi kann Taipeh vielleicht nicht ganz mit Tokio mithalten – besser als alles, was man in Europa bekommt, ist es aber allemal.

Daneben gibt es hier auf engstem Raum zahlreiche Genüsse aus der großen, weiten chinesischen Welt: klassische Dim-Sum-Läden mit enzyklopädischen Speisekarten und Servierwägen, fast so gut und schön wie in Hongkong, Restaurants, die auf die Küche Yunnans spezialisiert sind, der südlichsten Provinz Chinas, in der das Essen schon sehr nach Südostasien schmeckt, Teeläden, die das Tee-Äquivalent alter Burgunder oder Bordeaux verkaufen, und jede Menge räudige chinesische Straßenküche – von Erdnusssuppenkochern über Gänse-brätern bis hin zu Stinktofu-Frittierern.

Genug von Großstädten? Dann endlich raus in die Natur! Die Portugiesen, die im 16. Jahrhundert als erste Europäer hier landeten, nannten Taiwan nicht ohne Grund »Isla Formosa«, die schöne Insel. Während die Westküste dicht besiedelt ist und fast einer einzigen, großen Stadt gleicht, wartet in der Mitte die subtropische Wildnis: Fast 4000 Meter ragen die Berge hier in den Himmel, es gibt spektakuläre Schluchten, reißende Flüsse und prächtige Luxushotels tief im Regenwald, auf deren Dachterrassen man im Whirlpool sitzend Affen beobachten kann, die sich durch die Bäume schwingen.  An der Ostküste schließlich treffen die Taiwaner Berge spektakulär aufs Meer, mit steilen Felsenküsten und ewigen, oft menschenleeren Sand-stränden.

Der Osten ist auch jene Gegend, in der Besucher die Kultur der taiwanischen Ureinwohner am besten kennenlernen können. Es gibt Themenparks, die diesen Kulturen gewidmet sind (sie erinnern westliche Besucher mitunter ein wenig an menschliche Zoos) und Restaurants, die ihre Küche servieren, von gedämpften Vogelnestfarnen bis zu Wild aus den Wäldern – ein Festmahl, fast so spektakulär wie für die Toten.

Erschienen in
Falstaff Nr. 06/2019

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Tobias Müller
Autor
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