Geräucherte Panna cotta mit Orange, Roter Rübe und Apfel aus der kreativen Küche des »Solec 44«.

Geräucherte Panna cotta mit Orange, Roter Rübe und Apfel aus der kreativen Küche des »Solec 44«.
Foto beigestellt

Polen: Piroggen waren gestern

Eine junge Generation polnischer Köche verabschiedet sich von der deftigen Koch­tradition ihres Landes. Die neue polnische Küche ist wild, aufregend und wird noch für Aufsehen sorgen.

Andrea Camastra ist eine der größten kulinarischen Attraktionen, die Polen zu bieten hat. Von allen Kontinenten pilgern Gourmets und Foodies seinetwegen nach Warschau. Der Italiener zog 2011 der Liebe wegen in Polens Hauptstadt, inzwischen ist er dort nicht mehr wegzudenken. Der renommierte Restaurant-Führer Michelin zeichnete Camastra 2016 mit einem Stern aus – es ist überhaupt erst der zweite, der einem polnischen Restaurant verliehen wurde. Die Kulinarik durchlebt in dem Land gerade ihre aufregendste Epoche.

Camastras Restaurant »Senses« liegt nahe der malerischen Warschauer Altstadt, der Name ist Programm: Seine Menüs nehmen alle Sinne in Anspruch, Camastra ist ein Küchen­artist, der mit Texturen spielt und mit unerwarteten Geschmackskombinationen verblüfft. Ziegenkäse serviert er mit einer sauer marinierten Rote-Bete-Salsa, einer Grütze von der Bete und mit Erdbeereis. Es ist eine Abfolge von aufwendig konstruierten Tellern, die nie einen Hehl daraus machen, dass Camastra bei Ferran Adrià, dem spanischen Virtuosen der Molekularküche, in die Schule gegangen ist. Neben dem »Senses« betreibt er sein eigenes Food-Labor, in dem Ideen und »Gadgets« entwickelt werden: Camastras Focaccia ist etwa als gallertartiges Auge konzipiert.

Foto beigestellt

Solche technischen Spielereien seien ihm wichtig, sagt der 47-Jährige, »aber sie müssen immer mit Emotionen verbunden sein«. Was könnte mehr Gefühl wecken als der polnische Sonntagsbraten, den Camastra in seine Einzelteile dekonstruiert und als Burger neu komponiert: Das Schweinefleisch, sous-vide gegart, wird von Zwiebeln in Pulverform und Rote-Bete-Mayonnaise veredelt. Camastra verfeinert die oftmals rustikalen polnischen Rezepturen mit modernster Technik und italienischem Charme. Gerne arbeitet er mit ausgewählten Produkten aus Polen, ohne aber auf Trüffel oder Kaviar zu verzichten. Wer immer noch glaubt, dass Polens Küche nur aus Pierogi, Kohlrouladen und derben Eintöpfen besteht, der wird im »Senses« auf äußerst genussvolle Art kuriert.

Der erste Stern

Der Titel des derzeit besten polnischen Kochs kann Camastra nur von Wojciech Modest Amaro streitig gemacht werden. Der Starkoch mit dem klangvollen Namen ist der Anführer der kulinarischen Avantgarde: Lange musste Polen auf den ersten Michelin-Stern warten, bis es im März 2013 klappte. Wojciech Modest Amaro erhielt ihn für sein »Atelier Amaro«, mit dem der Mittvierziger die lethargische Gastroszene Polens wachrüttelte. Wie Andrea Camastra ließ auch Amaro sich in Ferran Adriàs Restaurant »El Bulli« inspirieren. Aber er arbeitete auch mit René Redzepi im berühmten Kopenhagener Restaurant »Noma« zusammen. Die Küche ist für ihn der Ort, wo Natur auf Wissenschaft trifft. Amaro zerlegt polnische Rezepte aus dem 16. und 17. Jahrhundert in ihre Bestandteile und fügt sie mithilfe moderner Küchentech­niken neu zusammen. Dabei verbinden sich Texturexperimente mit einer puristischen Naturküche zu einer unverwechselbaren Stilistik.

»Moments« nennt Amaro seine Werke, die von den Jahreszeiten und in Vergessenheit geratenen Pflanzen und Kräutern geprägt werden: Amaro verarbeitet Bisongras und grillt die Wurzeln der Kalmuspflanze. Die Beeren der Eberesche behandelt er mit flüssigem Stickstoff, aus Pflaumenkernen gewinnt er Öl. Einer seiner bekanntesten Teller präsentiert hauchdünn geschnittene Foie gras, in Schlehensaft mariniert und mit flüssigem Stickstoff gefroren, kombiniert mit einer Mousse von wilden Rosen, einer in Wildrosenessig getränkten Meringue und geeistem Leb­kuchen. Wer die Kochkunst Amaros genießen möchte, sollte rechtzeitig buchen, denn die 32 Plätze in seinem unweit des Łazienki-Parks gelegenen Restaurant sind heiß begehrt.

Mutige Erneuerer

Neben Camastra und Amaro, den Tausendsassas des neuen polnischen Küchenwunders, zählt auch Aleksander Baron zu den Charakterdarstellern in Warschau. Baron arbeitet nicht weniger kreativ als die beiden Sterneköche, aber mit ganz anderen Methoden. Baron gilt als rebellischer Geist, sein Restaurant »Solec 44« war früher einmal eine Bar, in der sich Heavy-Metal-Fans trafen. In Regalen stehen gläserne Ballons mit fermentierten Tomaten, die in der Auflösung begriffen zu sein scheinen, Samen vom Haselnussstrauch und Weizen, der aussieht wie ein in Wasser explodiertes Brötchen.

»Wir lieben es zu fermentieren«, sagt Katarzyna Federowicz, Partnerin des Küchenchefs und Sommelière im »Solec 44«, wo sie vor allem polnische Weine ausschenkt. Aleksander Baron möchte den kulinarischen Reichtum der polnischen Küche herausstellen, die noch im 18. Jahrhundert als eine der besten in Europa gegolten habe. Im Sozialismus aber schrumpfte dieses Erbe endgültig zur schlichten Hausmanns­kost zusammen. Baron zählt zu den Erneuerern, die traditionelle Techniken der Zubereitung wie Fermentieren, Räuchern, und Trocknen in der Gegenwart weiterentwickeln.

»Wenn man weiß, wo man herkommt«, sagt er, »ist es einfacher, nach vorne zu gehen.« Bei Baron ist die DNA der traditionellen Küche Polens klar zu erkennen, die er aber neu und radikal interpretiert: Sein polnisches Kimchi kommt ohne Chili aus, alle Zutaten und Bakterien seien polnisch, erklärt Baron, der sich dem Slow-Food-Gedanken verpflichtet fühlt. Er verarbeitet nur ganze Tiere, vom Kalb bietet er auch die geräucherte Zunge an.

Der »Think Tank«

Ortswechsel: Besuch in Breslau, der viertgrößten Stadt Polens. Von der Altstadt erreicht man über eine der vielen Brücken die Władysława Łokietka. Hinter einer unauffälligen Fassade hat sich der »Food Think Tank« formiert. Kopf des Projekts ist der bekannte Küchenchef Tomasz Hartman. Alle paar Monate finden außergewöhnliche Dinner statt, in den Bergen oder mitten im Wald, wo im spontan-kreativen Zusammenspiel ein Menü entsteht. Nach der Gleich­macherei im Kommunismus ist freie Entfaltung gefragt in Polens Küchen. Der »Food Think Tank« möchte festgefahrenes Denken abschütteln.

Auch in ländlicheren Gegenden ist der kulinarische Aufschwung zu spüren: Der Warschauer Unternehmer Marek Gendaj ließ in Niemcza, 45 Kilometer von Breslau entfernt, ein Renaissance-Schloss zum Luxus­hotel mit Restaurant umbauen. Küchenchef im »Uroczysko Siedmiu Stawów« ist Damian Chajecki, der auf beste heimische Zutaten zurückgreift: Das Gemüse und das Obst stammen vom 65 Hektar großen biologisch bewirtschafteten Land, das zur Hotelanlage zählt. Chajecki kochte davor im französischen Restaurant »La Poule au Pot« in London. Seine polnische Küche will er mit dem Geschmack der weiten Welt würzen: Die Forelle aus Kłodzko in Niederschlesien kombiniert er mit Wildreis, Wakame, Erbsen, Tomaten und Oktopus.

Zurück in Warschau, wo Flavia Borawska durch das Restaurant »Shoku« wirbelt. »Wir haben unsere schwere und fette Küche so satt«, sagt Borawska, die raffiniert mit Aromen spielt: Den in Miso marinierten weißen Spargel serviert sie mit knusprigen Pankobröseln, Bärlauchöl und einem bei 64 Grad langsam gekochten Ei. Wie viele andere Talente sammelte auch die 28-Jährige Erfahrungen im Ausland. »Zum ersten Mal fühle ich mich aufgehoben in der polnischen Gastroszene«, sagt die Köchin. Früher führten in den Restaurants Köche mit mächtigen Schnurrbärten ihr strenges Regime, heute ist eine junge Generation dabei, sich im Land zu etablieren. Flavia Borawska steht auch für die dynamische Entschlossenheit, mit der die polnische Küche gerade von Grund auf erneuert wird: Eine solche Vielfalt an Ideen und Stilen konnte sie noch nie vorweisen.

Erschienen in
Falstaff Nr. 06/2017

Zum Magazin

Rainer Schäfer
Mehr entdecken
Das Weingut Jaworek sieht es als »Mission« an, den polnischen Wein ins Bewusstsein der Konsumenten zu holen.
Travelguide
Polen: Ein Weinland entdecken
Vermehrt beweisen polnische Winzer, welche beeindruckende Weinqualität in ihrem Land entstehen...
Von Rainer Schäfer
Mehr zum Thema