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Loire: Prunk und Pracht

In den Küchen garen die besten Zutaten und auch große Weine werden hier gemacht: Die Loire ist nicht nur ein Fluss in Frankreich, sondern auch ein Schlaraffenland mit jahrhundertealter Genusstradition.

Morgens hat sich der Fluss noch unter einer milchig-weißen Decke von Frühnebel versteckt. Jetzt gegen Mittag strahlt das Blau der Vienne unweit der Mündung in die Loire mit dem ersten zarten Sprossengrün der frühlingserwartenden Bäume und Wiesen um die Wette.
Auch die Weinreben zeigen zaghaft, dass wieder Leben in ihnen steckt: Eine malerische Szenerie, die die imposante Burganlage des Château de Chinon einrahmt. An einem Frühlingstag im März 1429 traf hier Jeanne d’Arc auf König Karl VII. und überzeugte ihn, der belagerten Stadt Orléans zu Hilfe zu eilen. Jetzt redet der »Baron de la Truffe« eindringlich auf seine beiden Wuschelhunde ein: Sie sollen mit ihm raus in die Eichenplantage gehen – ein letztes Mal für diese Saison. Denn da könnte noch etwas auf sie warten: »Chercher les truffes!«
Jetzt im März findet der attraktive Anfang Fünfzigjährige mit den grauen Haaren, die perfekt zum Kaschmirpullover passen, mit Glück noch die letzten begehrten Knollen. In der Nähe von Chinon mit Blick auf die Burg hat Serge Desazars de Montgailhard 1996 ein 60 Hektar großes Feld anlegen lassen: Dort wachsen mit Trüffelsporen geimpfte Eichen. Es ist die erste Trüffelfarm Frankreichs überhaupt! In den Wäldern an der Loire gedeiht der Tuber melanosporum zwar hier und da wild. Monsieur geht aber lieber auf Nummer sicher und holt aus dem Goldacker in der Nähe seines Hauses jetzt Jahr für Jahr die begehrten schwarzen Diamanten heraus. Zur »Ernte« fliegen schon mal Gäste per Helikopter aus Paris ein, die er anschließend mit frischem Baguette, Trüffelbutter und Wein aus eigener Produktion bewirtet.
Eine Ode an den Trüffel hat der »Trüffelbaron« auch schon geschrieben, zu der unter anderem kein Geringerer als der Starkoch Yannick Alléno Rezepte beisteuerte. Seine Aromaknollen schickt er ansonsten in die Meisterküchen von Paris, aber die meisten bleiben an der Loire: »Wir haben hier großartige Küchenchefs«, sagt Serge Desazars: »Die wissen, wie sie den schwarzen Diamanten zum Leuchten bringen!«

Ein Schlaraffenland für Feinschmecker! Und ein Paradiesgarten für kreative Küchenchefs, die frischen Wind und neue Ideen an den Herd bringen.

Bald wird der Glanzpunkt der winterlichen Küche durch frischen Spargel und Erdbeeren ersetzt. Der »Garten Frankreichs«, wie das Loiretal auch genannt wird, hat da so einiges zu bieten. Dank der unterschiedlichen Böden gedeihen hier verschiedene Sorten von Gemüse, Obst und Kräutern. Denn das Val de Loire ist nicht nur für seine herausragenden Weine bekannt, sondern auch für den »Marktkorb der Nation«, in dem über 400 Schlösser liegen. Ein Grund, warum der Landstrich zwischen Atlantik und der Mitte Frankreichs eine solch großartige Küchen­tradition hat: Der Adel war schuld. Der ließ sich hier während des 15. Jahrhunderts nieder und wollte schlemmen.
Während des Hundertjährigen Krieges zwischen 1337 und 1453 war die Loire der Grenzfluss zwischen den von den Engländern besetzten Gebieten im Norden und dem Rest Frankreichs im Süden. Die Burgen und Festungen, die in dieser Zeit an den Ufern der Loire und ihren Nebenflüssen entstanden, verwandelten sich in der Renaissance in prachtvolle Residenzen der Macht, in denen es nicht nur in den Küchen hoch herging.

Lebendige Genusstradition

Heute machen die vielen imposanten Schlösser wie Chambord und Chenonceau die Region zu einem der beliebtesten Reiseziele Frankreichs. Es ist das kulturelle Erbe, das die Touristen fasziniert. Aber auch die Genusstradition, die hier weiterlebt, in diesem von der Natur reich beschenkten Landstrich: Die Wälder sind voll von Wild, in den Höhlen rund um Saumur wachsen Pilze, aus der Loire und ihren Nebenflüssen ziehen Fischer Forellen, Zander und Aale, und der Atlantik mit seinen Meeresfrüchten ist nicht weit. Ein Schlaraffenland für Feinschmecker!
Und ein Paradiesgarten für kreative Küchenchefs, die frischen Wind und neue Ideen an den Herd bringen. Einer davon ist Baptiste Fournier, 38 Jahre jung und aufgewachsen in einer der berühmtesten Weinregionen Frankreichs: in Sancerre an der oberen Loire. Zweimal die Woche wird er von seinen Gemüsebauern beliefert. »Ich weiß eigentlich nie im Voraus, was sie diesmal dabeihaben. Aber wenn sie mit ihren Kisten und Körben zur Tür hereinkommen, geht bei mir das Kopfkino los!«, sagt der Koch und Eigentümer des Restaurants »La Tour« im Herzen von Sancerre, einen Familienbetrieb, den seine Eltern aufbauten und den er erst vor zwei Jahren übernahm.
Oft bringen seine Lieferanten geschmacks­intensive, alte Gemüsesorten, hin und wieder farbenfrohe, essbare Blüten. Dann spielt er schon mal durch, was er mit dem Saft von Topinambur oder der Süße von frischen Zuckerschoten, mit Saubohne oder Spargel, Radieschen oder roten Karotten zaubern kann. Das klingt so leicht und einfach, dabei sind seine Kreationen raffiniert und viel schichtig, wie etwa die gebratenen Jakobsmuscheln mit einer Mousse von Steckrübe, die die subtile Säure eines Quitten-Jus zusammenführt. Oder die Langusten, die er von Aromen von Artischocken, Clementinen, Knoblauch und Petersilie begleiten lässt.
Der Koch, der gerne mit unterschiedlichen Texturen spielt, hat bei den Großen seines Fachs gelernt: bei den Brüdern Laurent und Jacques Pourcel im »Le Jardin des Sens« und bei Alain Passard im »L’Arpège« in Paris: »Dort hat es bei mir mit dem Gemüse klick gemacht«, sagt der quirlige Mann, der den wunderbaren Weinen vor seiner Haustür auch in seinen Menüs Respekt zollt.

Essbare Kunstwerke

Gemüseverliebt wie Baptiste Fournier sind auch Fumiko und Anthony Maubert, das japanisch-französische Ehepaar, das als Küchenchefs das »Assa« in Blois auf die gastronomische Landkarte setzte. Mitten ins Herz des Loiretals, vis-à-vis dem Fluss. »Als ich als Koch anfing«, erzählt Anthony Maubert, »war ich absolut fleischfixiert, später war es dann der Fisch und heute das Gemüse, das mich inspiriert.«
Aus der Fülle der Farben, Aromen und Konsistenzen kreiert das junge Paar geradezu anmutige, essbare Kunstwerke, die wie moderne Malerei wirken. Ein visueller Überraschungsakt, dem unerwartete Geschmackshöhepunkte folgen. Ein sehr eigenständiger, persönlich geprägter Stil, der große Kontraste harmonisch vereint: »Auf der einen Seite ist da die ländliche Küche meines Großvaters als Basis, dazu kam die japanische Subtilität, die ich durch meine Frau kennenlernte, der große Respekt vor der Natur und das Bedürfnis, ihr sehr nahe zu kommen«, erklärt Anthony Maubert, der im Département Mayenne nördlich der Loire aufwuchs.
Inspirieren lassen sich die beiden auch von den Weinen und den Winzern der Loire: »Wenn wir sehen, wie sie Assem blagen kreieren, ziehen wir daraus Ideen, die wir auch auf unsere Brühen oder Saucen anwenden können.«

Eines der Lieblingsprodukte der Region stellen die beiden bei einer Genussreise in drei Etappen in den Fokus: Foie gras. Der erste Stopp: Entenstopfleber in Form einer Granita, die die Identität der Leber herauskristallisiert und das Menü mit einem Frischekick beginnen lässt. Beim zweiten Gang wird eine in Dashi – der typischen japanischen Brühe – pochierte Foie gras zusammen mit über Holzfeuer zubereiteten Shitakepilzen serviert. Eine ungewöhnliche, ausbalancierte Komposition, die das kräftige Leberaroma mit dem subtilen Algengeschmack des Dashis und einem Hauch von Rauch zusammenbringt.
Das Ganze wird in einer Teekanne serviert. Zum Schluss trinkt man die Fisch­brühe pur aus einem Becher und hat noch einmal das volle Umami-Erlebnis. Der dritte Halt auf der Reise in die Welt bilateraler Beziehungen zeigt sich in einer Foie gras, die im Stil einer japanischen Chawanmushi zubereitet ist. Joghurt steuert den ländlichen, französischen Spirit hinzu. Aber das letzte Wort hat Asien: Das Gericht wird mit knuspriger Bambusasche getoppt.
Wie Fumiko und Anthony Maubert ist auch Marie Monmousseau weit in der Welt herumgekommen: Sie stand bei Sterneköchen in Paris und Dubai am Herd und führte selbst drei Jahre lang ein französisches Bistro in London. »Als ich Mutter wurde, wollte ich aber wieder nach Hause zurück«, sagt die heute 40-Jährige. Ihr Zuhause ist das berühmte Schaumweinhaus Maison Bouvet Ladubay in Saumur, das Vater Patrice und Schwester Juliette führen. In den sieben Kilometer langen unterirdischen Gängen, die sich zu Galerien und Kathedralen öffnen, lagerten früher die Crémants de Loire, die das Haus weltberühmt machten.

Immer an der Loire entlang

Heute führt eine eineinhalbstündige Radtour durch die ehemaligen Tuffsteinbrüche aus weißem Kalkstein, der für die Provinz Anjou so charakteristisch ist und der auch die Weine der Region mit seiner Mineralität prägt.
17 Kilometer weiter westlich Richtung Angers – immer an der Loire entlang – liegt das Restaurant »La Route du Sel«, in dem jetzt Maries eigener Herd steht. Den Gas­tronomiebetrieb in dem kleinen Dorf Le Thoureil kennt sie schon seit Jugendtagen: »Als die ursprünglichen Besitzer ihn in neue Hände abgeben wollten, wurde ein Traum für mich wahr«, schwärmt die Frau mit den langen blonden Haaren. Die Lage ist in der Tat ein Traum: Von der efeubewachsenen Terrasse schaut man direkt auf den Fluss, im Garten hat die neue Hausherrin Stühle und Tische unter grünen Sonnenschirmen aufgestellt, und manchmal sieht man die lokalen Fischer die steinernen Stufen zum Haus hinaufsteigen – im Gepäck: den Fang des Tages.
Marie Monmousseaus Küchenphilosophie ist denkbar einfach: »Ich will meine Gäste glücklich machen!« Dazu nutzt sie die große Auswahl an frischen lokalen Produkten und verarbeitet sie manchmal ganz klassisch französisch, mal mit einem Twist ins Asiatische, mal bedient sie sich skandinavischer Traditionen: Ihre Familie mütterlicherseits kommt aus Schweden.
Deshalb weiß die junge Küchenchefin auch, wie man Fische heiß räuchert und sie mit frischem Meerrettich zu einer ausdrucksstarken Vorspeise kombiniert. Glücklich macht auch eine im eigenen Fett gegarte Foie gras, der die Schwere durch die Zugabe von mitgeschmorten süßlich-säuerlichen Äpfeln und in Armagnac eingelegten Weintrauben genommen wird. Mal kommt auch Tataki vom weißen Thunfisch oder ein raffiniertes Aal-Frikassee mit Knoblauchbutter und einem Kartoffel-Zitronenschaum auf dem Tisch. »Ich freue mich aber auch schon auf den ersten Spargel, der hier auf den sandigen Böden der Loire ganz wunderbar wächst«, sagt die sympathische junge Frau, die auf ihrer Weinkarte fast ausschließlich die eigene Region im Fokus hat.

Top-Adresse in Nantes

Auch die Gäste des Lokals »L’Atlantide 1874« in Nantes schauen aufs Wasser. Die Loire hat an dieser Stelle eine Flussinsel gebildet, und der Hafen der sechstgrößten Stadt Frankreichs weist darauf hin, dass das Meer nur 50 Kilometer entfernt ist.
Morgens sieht man Jean-Yves Guého zum Markt gehen. Der Küchenchef schaut, was die Stände jetzt im beginnenden Frühling so bunt macht. Aber eigentlich hat er nur eins im Sinn: »Langustinen! Meine Gäste sind ganz verrückt nach ihnen.« Die große französische Küche hat der mehrfach ausgezeichnete Chef de Cuisine in den 1980er-Jahren im legendären »L’Auberge de l’Ill« im Elsass aufgesogen. Aber dann rief die große, weite Welt und New Orleans, Hongkong und Paris wurden zur Wahlheimat. Mit all den verschiedenen Einflüssen kam der gebürtige Bretone Ende der 1990er-Jahre nach Nantes. Sein modern eingerichtetes Restaurant mit der großen Fensterfront zum Fluss, das er mit Frau und Tochter führt, gehört heute zu den etablierten Top-Adressen an der Loire. Die Philosophie seiner Küche: »Man muss das Produkt schmecken, nicht die Gewürze.«
So klar und übersichtlich, wie das Restaurant eingerichtet ist, sind auch die Teller komponiert. Es ist eine Reduktion auf das Wesentliche, die den Charakter einer Zutat in den Mittelpunkt rückt und den Gaumen nicht mit zu vielen Geschmackseindrücken überflutet. Die superfrischen Langustinen à la Teppanyaki brauchen eben nicht mehr als ein wenig Karottenaroma und ein leichtes Jus. Und sie beweisen: Die Genusstradition an der Loire kann heute ihre Größe auch schlank und modern zeigen.

Erschienen in
Falstaff Nr. 01/2019

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Brigitte Jurczyk
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