© StockFood

Sterneküche: Einmal Sterne und zurück

Gutes Essen boomt, noch nie gab es bei uns so viele Spitzenrestaurants. Doch profitieren die Köche davon? Ein Report darüber, ob sich Haute Cuisine noch lohnt.

An einem sommerlichen Samstagnachmittag um kurz nach 12 war es still im Restaurant «La Vie». High Noon in Osnabrück. Soeben hatte Geschäftsführer und Küchenchef Thomas Bühner, 56, seinem Team eine traurige Nachricht verkündet: Das «La Vie» macht nach mehr als zwölf Jahren zu. Ohne Galgenfrist, ohne Zeit, sich zu verabschieden, sondern mit sofortiger Wirkung. Schon am gleichen Abend wurden keine Gäste mehr bewirtet. Die Entscheidung traf nicht Bühner selbst, sondern der Investor im Hintergrund, ein deutsches Schwerindustrieunternehmen. Man wolle sich im Zuge einer organisatorischen Neuausrichtung auf die Stahlherstellung und -verarbeitung konzentrieren, hiess es in der Pressemitteilung.
Auf einen Schlag erloschen drei Michelin-Sterne über Deutschland. Das mag vernachlässigbar wirken, betrachtet man den reichlich bestirnten deutschen Gourmethimmel, an dem noch immer knapp 300 Michelin-Sterne leuchten. Dennoch war der Tag im Sommer ein Tiefschlag für die internationale Gourmetszene. Und ein symbolischer Vorgang, der zeigt, wie es um die Rentabilität der Haute Cuisine bestellt ist. Oder nicht? Falstaff-Autoren aus Österreich, Deutschland und der Schweiz sind der Frage nachgegangen, ob sich mit einem Restaurant der obersten Liga wirklich Geld verdienen lässt. Sie haben mit vielen Köchen gesprochen und wollten wissen: Wie geht es der Spitzengastronomie? Spielen die Sterne noch immer eine grosse Rolle? Was ist die Alternative? Die Bilanz, so viel sei an dieser Stelle schon verraten, fällt ernüchternd aus: Schwarze Zahlen schreibt kaum jemand, der auf höchstem Niveau kocht. Und das, obwohl hochklassiges Essen so boomt wie noch nie – und seine Urheber in Deutschland erstmals die Anerkennung bekommen, die sie verdienen.
Anfang Oktober im Schloss Bellevue, Berlin. Die Stühle im Grossen Saal stehen dicht an dicht, in der ersten Reihe sitzen Koryphäen aus der Kunstwelt: Filmmusik-Komponist Hans Zimmer ist aus Hollywood gekommen, Schauspielerin Julia Jentsch aus der Schweiz, Fotokünstler Wolfgang Tillmans aus London. Ganz links sitzt ein weiterer Ausnahmekönner: Christian Bau (47) – seit 20 Jahren kocht er auf «Schloss Berg» im Saarland, seit 2005 hält er seine drei Sterne. An diesem Vormittag bekommt er von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Bundesverdienstkreuz verliehen. «Kunst kann man nicht nur sehen oder hören, bei Christian Bau kann man sie vor allem schmecken. Christian Bau ist ein Koch von Weltrang», heisst es in der Laudatio. Eine Ehrung von höchster Stelle, endlich, doch wirtschaftliche Sicherheit garantiert auch das nicht.

Einer, der offen darüber spricht, ist der Hamburger Koch Boris Kasprik, 34. Er führt sein mit einem Stern ausgezeichnetes Restaurant «Petit Amour» ohne grossen Geldgeber im Hintergrund. Um die 80 Stunden arbeitet er jede Woche, in schlechten Zeiten, wenn gerade jemand aus dem Team krank ist oder gekündigt hat, können es auch 120 Stunden werden. Er kommt nie vor Mitternacht ins Bett, häufig erst gegen 3 Uhr in der Früh, und spätestens am Vormittag steht er wieder im Laden. Denn Kasprik gibt ja nicht nur den Takt in der Küche vor, er ist auch Personalleiter, oberster Buchhalter und Hausmeister in Personalunion. Ob er wenigstens gutes Geld verdient für solch einen Aufwand? «Eine Familie kann ich damit nicht ernähren», sagt Kasprik.
Zwar kocht nicht jeder Küchenchef so produktorientiert wie der Hamburger, der eine klassisch französische Ausbildung bei Top-Stars wie Jean-Claude Bourgueil und Alain Ducasse absolvierte und unter dem Japaner Seiji Yamamoto arbeitete. Kasprik kalkuliert mit hohem Wareneinsatz und sagt: «Für mich ist das wie Weihnachten, wenn ich einen 12-Kilo-Steinbutt in der Küche ausnehme und filetiere.» Solche teuren Edelprodukte gehören eben dazu, auch wenn sie nicht allein ausschlaggebend sind für einen Stern. Dazu kommt ein immenser Personalaufwand – unter Thomas Bühner arbeiteten zu Spitzenzeiten für 40 Gäste mehr als 30 Leute im «La Vie», in fast jeder Küche eines hochdekorierten Kochs sieht es ähnlich aus. Zu Recht, meint Bühner: «Luxus definiert sich auch darüber, in welchem Grad ich umsorgt werde. Das geht nicht mit wenigen Mitarbeitern.»
Das Problem: Man muss sie auch bezahlen. Wer nicht gerade ein Hotel im Rücken hat, für das ein Haute-Cuisine-Restaurant Prestigeobjekt ist – meist von anderen Abteilungen quersubventioniert –, auf dem lastet der wirtschaftliche Druck schwer. Etliche Köche, auch bekannte Namen, reden über Burnout, psychische Probleme und stressbedingte Zusammenbrüche, wenn man sie nicht zitiert. Alkohol und Drogen sind häufig ein Ventil in der Szene, doch auch darüber sprechen die wenigsten. Traurige Zeichen, die die Öffentlichkeit wahrnimmt, sind Suizide: Der Franzose Benoît Violier verübte 2016 Selbstmord, nur wenige Monate, nachdem sein 3-Sterne-Restaurant im «L’Hôtel de Ville» in Crissier auf Platz 1 der besten Restaurants gewählt worden war. Bernard Loiseau, ein anderer Spitzenkoch aus Frankreich, nahm sich 2003 das Leben – angeblich, weil ein Gourmetführer die Bewertung seines Restaurants deutlich herabgestuft hatte.

Mit dem Erfolgsdruck muss man umgehen können, will man ganz nach oben. Zusätzlich verdient man kein Geld. Was die Alternative wäre? Das Konzept ändern, den Wareneinsatz zurückfahren und auf eine einfachere Küche setzen. Oder wie Juan Amador sagt, der früher in Mannheim kochte und jetzt in Wien auf Weltklasse-Niveau arbeitet: «Ich kann mir überlegen: Will ich ein erfolgreicher Geschäftsmann sein oder will ich ein ganz besonderes Restaurant haben, eines, das zur Spitze gehört? Ich und viele meiner Kollegen entscheiden uns meist für die zweite Variante. Wir müssen uns aber dann auch irgendwann mit der Frage der Wirtschaftlichkeit befassen. Denn diese Frage taucht in jedem Fall irgendwann auf.» (s. Interview).
Mit TV-Verträgen zusätzliches Geld zu verdienen, wie es etwa Szenegastronomen wie Tim Mälzer machen, dafür haben die echten Haute-Cuisine-Profis keine Zeit. «Haben Sie einen von meinen Kollegen schon mal im Fernsehen gesehen?», fragt Thomas Bühner rhetorisch. Der Nachteil folgt sogleich, denn logischerweise können diese Köche auch keine Werbegelder verdienen, weil sie kaum jemand kennt – wer ausserhalb der Gourmetszene kann schon den Namen eines Drei-Sterne-Kochs nennen?
Es braucht also andere Ideen, um die Wirtschaftlichkeit eines kulinarischen Verwöhntempels sicherzustellen. Der Klassiker ist, sich ein zweites Standbein zu erarbeiten. Etliche Köche, die in der obersten Liga spielen, betreiben nebenbei noch mindestens ein Zweitrestaurant oder geben zumindest ihren Namen für ein solches her. Pierre Gagnaire, Alain Ducasse, Gordon Ramsay und andere Stars haben es vorgemacht: Neben dem Hauptrestaurant gehören zu ihrem Imperium noch Bistros oder Casual-Dining-Restaurants, die ihren Namen tragen, in denen es aber eine etwas schmalspurigere Küche gibt. Auch der Schweizer Drei-Sterne-Koch Andreas Caminada hat kürzlich ein Zweitrestaurant eröffnet.
Eine Subvention fürs Hauptgeschäft? Das sehen nicht alle so. Konstantin Filippou etwa, der in der Wiener Innenstadt neben seinem Zwei-Sterne-Restaurant auch das Bistro «O Boufés» betreibt, versichert, man müsse in beiden Betrieben Gewinne erwirtschaften können, sonst gehe sich die Rechnung nicht aus. Filippou: «Wir haben zwei Jahre nur Fine Dining gemacht und es hat funktioniert. Jetzt haben wir ein Zweitlokal und verdienen dazu. Aber auch dort muss streng gerechnet werden, wir haben da keine Mischkalkulation.»

Wirtschaftlichkeit ist möglich

Deutsche Spitzenköche tun sich schwer damit; einzig Tim Raue zeigt, wie man mit mehreren parallelen Konzepten neben dem Sterne-Restaurant erfolgreich Geld verdienen kann. «In Deutschland wird erwartet, dass der Koch auch am Herd steht», sagt Thomas Bühner. Da ist was dran.
Billy Wagner, 37, in Deutschland sicher einer der klügsten Vordenker in der Gastronomie, hat eine eigene Meinung zum Thema – gewohnt radikal. Er betreibt in Berlin das mit einem Stern prämierte «Nobelhart & Schmutzig», für das er stolz als «Komplementär» fungiert. Das heisst: Im Gegensatz zu seinen Mitinvestoren haftet er auch mit seinem Privatvermögen, wenn etwas schiefgeht. Wagner sagt: «Wenn du zu viele Ausgaben hast und zu wenige Einnahmen, dann ist dein Produkt nicht gut! Du musst sicherstellen, dass sich in deiner Gegend genügend Leute deine Preise leisten können.»
Das «Nobelhart & Schmutzig» – mit seinem starken Bezug zu regionalen Produkten – wurde von Anfang an auf Profitabilität getrimmt. Die Gäste sitzen an der Theke rings um die Küche, die Köche reichen die Teller raus, so spart man Service-Personal. Statt Steinbutt und Wagyu bekommt man hier wilde Pfirsiche, von Jägern gesammelt. Es gibt ein festes Menü, kein à la carte, «dafür brauchst du einen extra Koch», sagt Küchenchef Micha Schäfer. No-Show-Gebühren und vom Wochentag abhängige Menüpreise zur besseren Auslastung gehören ebenfalls dazu. Der Erfolg? Die Belegung liegt bei nahezu 100 Prozent.


Opfer des hohen Drucks in der Küche

© GettyImages

Bernard Loiseau: Einer der erfolgreichsten Köche in der Geschichte Frankreichs nahm sich 2003 das Leben, kurz nachdem «Gault&Millau» sein Restaurant um zwei Punkte herabgestuft hatte.

© Thomas Samson | AFP | picturedesk.com

Benoît Violier: Anfang 2016 erschütterte der Selbstmord des damals besten Kochs der Welt die Gourmetszene. Sein Res­taurant im «L‘Hôtel de Ville» in der Schweiz hatte in sämtlichen Führern Höchstnoten.

Erschienen in
Falstaff Nr. 08/2018

Zum Magazin

Philipp Elsbrock
Philipp Elsbrock
Autor
Mehr entdecken
Mehr zum Thema