Seoul: Eine Stadt der Kontraste

Während französische Sterneköche in den obersten Etagen der Wolkenkratzer auftischen, dampft es unten aus den Töpfen der Strassenküchen.

Die Zukunft kostet 10.000 Won (umgerechnet knapp acht Euro) und liegt in einer Hand. Xui Lateng findet darin tiefe Linien, die sich in den Handteller graben, und einen Höcker an der richtigen Stelle. In ihrem »Büro«, einem zeltartigen Unikum aus Plastikplanen in einer der Fussgängerzonen  von Seoul, weiss die Wahrsagerin mit den lächelnden Augen und den kurzen, schwarzen Haaren: »Die Zukunft sieht rosig aus!«

Wirtschaftswunderland
Und zwar nicht nur für Seoul, sondern auch für ganz Südkorea. Die Wirtschaft boomt und lässt sich auch von globalen Krisen nicht erschüttern. Dabei zählte der ost­asiatische Staat noch in den 1960er-Jahren zu den ärmsten der Welt – nach drei Jahren Krieg, der das ganze Land in Schutt und Asche legte, fast vier Millionen Menschen das Leben kostete und Korea in Nord und Süd teilte. Der Koreakrieg ist über 60 Jahre vorbei. Aber während der Norden der kore­anischen Halbinsel immer noch unter Hunger und Diktatur leidet, reiht sich der Süden heute unter die 15 stärksten Volkswirtschaften der Welt ein. Europäer haben das Wirt­schafts­wunderland in Fernost längst als neue Reisedestination entdeckt, für Geschäftsleute ist Seoul eine feste Grösse im Terminkalender. Allein schon Korean Air bedient täglich die Strecke Frankfurt–Seoul. 

Glamour und Bling-Bling
Was Besucher der Megacity erwartet, sind moderne Hochhäuser, die an den Wolken kratzen, Schnellstrassen, die sich durch ihr Innerstes fräsen, und viel Bling-Bling. Seoul ist in den vergangenen Jahren zu einer Boomtown mit über zehn Millionen Einwohnern herangewachsen – mit Shoppingmalls an jeder Ecke und quirligen Ausgehvierteln mit einem Riesenangebot an Gastronomie und Show. Das »Lotte Hotel«, das zu einem der grössten nationalen Unternehmen mit über 56.000 Angestellten gehört, glitzert in modernem Prunk und Pracht. Oben im 35. Stockwerk lässt sich ein verwöhntes Publikum von den avantgardistischen Kreationen des französischen Spitzenkochs und Globalplayers Pierre Gagnaire überraschen und feiert den Glamour westlicher Art mit Rundumsicht auf die Millionen Lichter der Stadt. Solche topdesignten und gehypten Plätze gibt es viele in dieser Stadt, die manchmal so wirkt, als würde sich die Welt hier etwas schneller drehen als anderswo.

Kulinarisches Highlight in Seoul: Die Küche des Hotels »Marriott«
Kulinarisches Highlight in Seoul: Die Küche des Hotels »Marriott« / Foto beigestellt

Party-Metropole
Insider sagen: »Work hard – enjoy hard«, das Lebensmotto der Koreaner ist kurz, aber knackig. Und so beginnt Freitagnacht Boomtown Seoul richtig zu kochen. In den vielen kleinen Restaurants an den Strassen drängen sich die Gäste. Aus den Boxen dröhnen die aktuellen Charts. Serviert werden die Nationalspeisen Bibimbap, ein würziges Reisgericht mit verschiedenen Gemüsen und gehacktem Fleisch, sowie Bulgogi, dünn geschnittene, marinierte Fleischscheiben, die auf dem Tischgrill zubereitet werden. Dazu gibt es Kimchi, scharf eingelegten Chinakohl – ein »Must eat« zu jedem Essen. Und zu später Stunde torkeln verdächtig viele Anzugträger beschwipst nach Hause.

Asiatische Disneyland-Version
Das alte Korea gibt es auch noch, fein restauriert und inszeniert. Schlangen von Schulklassen und Touristen bilden sich schon frühmorgens vor dem alten Gyeongbokgung-Königspalast. Viel hat der Krieg nicht von der reichen Vergangenheit des Landes übrig gelassen. Mit seinen Prachtbauten und riesigen Hofanlagen nimmt sich der »Palast der strahlenden Glückseligkeit« aus dem 14. Jahrhundert aber eher wie eine asiatische Disneyland-Version aus, in der bunt kostümierte Königsgarden ihren gross inszenierten Auftritt haben.

Trend-Scout
Eine gross angelegte Inszenierung ist das koreanische Essen dagegen nicht. »Das, was wir essen, ist extrem, wir essen schnell, aber wir essen nie allein« – so bringt Daniel Gray die Vorlieben seiner Landsleute auf den Punkt. Er muss es wissen: Als Foodblogger, Restaurantkritiker und Journalist ist der 34-Jährige, der in Korea geboren wurde und in den USA aufwuchs, absoluter Insider in Sachen Kulinarik. Mit seinem Unternehmen »O’ngo Food Communications« organisieren er und seine Mitarbeiter spannende Foodtouren durch Seoul und bieten professionelle Kochkurse an. Er kennt die besten Restaurants der Stadt, die versteckten Plätze, die Geheimadressen. Und natürlich die kleinen Läden, in die sich selten Nicht­koreaner verirren. Er weiss, wo (Food-)Trends geboren werden und die Tradition gefeiert wird. Und er weiss, wie seine Landsleute beim Essen »ticken«: »Du wirst nie jemanden allein im Restaurant sitzen sehen! Koreaner lieben es, ihr Essen mit Freunden und Familie zu teilen!« Seinen Gästen gibt er zur Orientierung in der Hauptstadt seinen speziellen »Food-Kompass« mit: »Das Künstlerviertel rund um die Hongdae-Universität bietet den richtigen Kosmos für junge Leute. Hier findest du schicke Cafés, Shops, Imbisse und Clubs. Das Businessviertel von Gangnam ist dagegen das Terrain für teure Restaurants, Whiskybars und Nobelboutiquen. Wenn man dagegen ­traditionelle koreanische Restaurants, ­Teehäuser und Reiswein-Pubs sucht, wird man in den Altstadtstrassen von Insadong fündig. Im internationalen Stadtteil Itaewon ist auch die Küche aus aller Welt zuhause: Hier kannst du amerikanisch, indisch, italienisch und sogar afrikanisch essen gehen – kein Problem.« Bei solch einer Fülle von Restaurants, Garküchen und Streetfood-Ständen fällt die Auswahl nicht leicht. Das weiss auch Dan Gray, der vor Jahren zurück zu seinen koreanischen Wurzeln nach Seoul ging und heute mit seiner Firma die ganze Palette des koreanisch-kulinarischen Kosmos vor seinen Gäs­ten und Lesern auffächert. Die folgen ihm gern in seine gut ausgestattete Kochschule, wo er oder seine Mitarbeiter den Schülern aus aller Welt zum Beispiel die tausend verschiedenen Arten zeigen, wie man Kimchi, also Kohl, einlegen kann. Oder wie man das berühmte, köstliche Reisgericht Bibimbap zubereitet.

Typisches Bild in Seoul: die offenen Straßenküchen, hier der Dongdaemun-Nachtmarkt / © Shutterstock
Typisches Bild in Seoul: die offenen Strassenküchen, hier der Dongdaemun-Nachtmarkt / © Shutterstock

Faszination Fischmarkt
Mit ihnen geht er auch auf die Märkte der Stadt, besonders gern auf den Noryangjin- Fischmarkt. »Lassen Sie bloss Ihre Designerschuhe im Hotel!«, warnt er seine Gäste. »Hier ist alles nass und glitschig!« Auch der Geruch, der in der Luft liegt, ist auf den ­ers­ten Metern gewöhnungsbedürftig. Ein nicht synchronisiertes Konzert von Stimmen, Schreien und Rufen füllt die Hallen, dazu der Beat der Beile, die auf Holzbretter eintrommeln, um Fische von Kopf und Flossen zu befreien. 1927 errichtet, ist der Markt mit seinen 700 Ständen der älteste und ­grösste Fischmarkt Koreas. 30.000 Kunden werden hier täglich bedient, 40 Prozent des Fischbedarfs Seouls werden von hier aus gedeckt. Das Angebot an Meerestieren wie Makrelen, Krabben, Seescheiden oder Walfleisch und weitaus Exotischerem ist hier sensationell. Und spektakulär: Beim ­Anblick von phallusartigen Muscheln, Meeresschnecken und -schlangen muss sich so mancher Westeuropäer schütteln. »›Was? Das kann man essen?‹ höre ich dann oft!«, schmunzelt der schmächtige Mann mit der schwarzgerahmten Brille. Während das Angebot aus dem Meer in bunten Plas­tikwannen den Marktbesuchern entgegenschwappt, dampft es schon an anderen ­Ständen aus Töpfen und Schüsseln. Eine Seafood-Platte, eine Fischsuppe oder ein Fischstew hier in der quirligen Menge zu ­verspeisen, ist ein aufregendes und sehr ­authentisches Abenteuer.

Einzigartige Produkte
Auch Andreas Krampl liebt die Atmosphäre auf den Märkten der Stadt. Der gebürtige Böblinger lebt schon seit drei Jahren in Seoul und hat die fünf Restaurants im »JW Marriott Hotel Seoul« zu verantworten. ­Begeistert ist der Chefkoch auch von den Foodabteilungen der grossen Department- Stores der Stadt: »Die können locker mit der Lebensmittelabteilung des bekanntesten Kaufhauses von London – Harrods – mithalten.« Mehr noch: »Hier finden Sie Wassermelonen für 350 US-Dollar das Stück oder Pfirsiche, die schon mal 16 Dollar kosten.« Vor allem die Fleischqualität fasziniert den 41-jährigen Baden-Württemberger: »Beim Beef gibt es sogar eigene Züchtungen mit verschiedenen Marmorierungsgraden. Und auch das Schwarze Schwein von der Jeju-­Insel ist himmlisch!« Da kann man als Wahrsager die Zukunft nun wirklich nicht mehr schwarzsehen, sondern nur noch rosig!

SEOUL – TIPPS UND ADRESSEN

Text von Brigitte Jurczyk
Aus Falstaff Nr. 07/2014 bzw. Falstaff Deutschland Nr. 08/2014

Brigitte Jurczyk
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