© Marcus Wiesner

Reisetipps: Michael Schottenberg im Burgenland

Vielen ist er als Regisseur und Schauspieler bekannt. Als Reiseautor hat Michael Schottenberg ein Buch über das Burgenland geschrieben. Für Falstaff erzählt er, was ihn dabei am meisten fasziniert hat.

Man glaubt’s ja nicht: Was in Menschenjahren unerreichbar erscheint, ist für ein Land nicht der Rede wert. Die junge Dame aus den Golden Twenties ist ein kulturelles ­Springinkerl und der Mittelpunkt der Welt: Slawen, Kroaten, Ungarn, Roma – ihr Schicksal ist mit dem kleinen, oberhalb und unterhalb und rund um den See liegenden Land eng verknüpft. 

Die hundertjährige Geschichte der Menschen, denen das Burgenland Heimat ist, ist mehr als erzählenswert. Was bewegt sie, was essen sie, was denken sie und, das vor allem, worüber lachen sie? Ich durfte ein Land ­entdecken, dessen Kultur einzigartig ist, das sich zu seiner ethnischen Vielfalt bekennt, das dem Schatz seiner Natur mit Respekt begegnet und das nicht »nur« an einem ­großen See liegt. 

Mit meiner roten Vespa war ich von ­Kittsee bis zum Csaterberg unterwegs, von Stinatz bis Illmitz. Ich habe Halt gemacht bei dem, »der mit den Düften tanzt«, beim Gschalerma(n)dlbauer in Heiligenbrunn und bei einem der letzten Duttlplutzer-Töpfer. Ich bin Monolithen begegnet, bin durch Kraftfelder getaucht, war zu Gast im »Haus der Ewigkeit« von Kobersdorf und habe die Ui-Sprache der Hianzen erlernt.

War ich in meinem bisherigen, theatralischen Leben mit nichts anderem als mit dem Nacherzählen der von großen Dichtern ersonnenen Geschichten beschäftigt, sind meine Texte nun real. Sie handeln von Begegnungen mit Menschen. Das, liebe Freunde, ist nicht nichts. Mit den Jahren wurde ich zu einem aufmerksamen Zuhörer. Wie oft passierte es, dass ich die Sprache der »Einheimischen« nicht verstand – in Burma, Vietnam oder Rajasthan, im Ländle, im Zillertal oder in Bildein. Und erst die Kaugummi-Aussprache der Wiener! In Simmering spricht man anders als in Hernals, in Ottakring anders als in ­Meidling. Wie unterschiedlich sind doch die Wortgebirge, Gedankenflüsse oder Lach­anfälle. Wie oft stellen Worte den Sinn dessen, was gemeint ist, auf den Kopf. Gesten, Mimik oder Humor nicht. Könnten wir doch mit dem Herzen sprechen!

Alle meine Erzählungen haben denselben Ausgangspunkt: Ich schlüpfe in eine Welt, die nicht die meine ist. Ich lerne Neues und verliere mich in Lebensentwürfen, manchmal sogar in Menschen. Natürlich sind es immer nur Momentaufnahmen. Von Flüchtigem zu erzählen kann spannend sein, hat es doch keineswegs den Anspruch aufs Ganze. Herzenswärme und Humor kennzeichnen meine Begegnungen. Schicksale, Kuriositäten, Familiengeschichten – was gibt es Spannenderes? Wie Prismen unterschiedlicher Farben und Formen fügt sich alles zu einem Ganzen und ergibt das Identitätsdiagramm einer Stadt, eines Landes. So befüllt sich ein Zettelkasten der besonderen Art mit Unbekanntem und bislang Verborgenem.

Für sein neuestes Buch ist Michael Schottenberg mit seiner roten Vespa quer durch Österreichs jüngstes Bundesland gebraust. Titel: »Burgenland für Entdecker«, Verlag: Amalthea, Preis: 25 Euro.
© Ulrik Hölzel
Für sein neuestes Buch ist Michael Schottenberg mit seiner roten Vespa quer durch Österreichs jüngstes Bundesland gebraust. Titel: »Burgenland für Entdecker«, Verlag: Amalthea, Preis: 25 Euro.

Zumeist bereiste ich fremde Länder. Während des letzten Jahres war ich hauptsächlich in der Heimat unterwegs – es hieß, innerhalb der eigenen Grenzen zu bleiben. Die Zeiten, sie sind halt so. Ein Schritt zurück? Keineswegs. Vielmehr eine Chance. Kein Wegschauen, sondern Hinschauen. Erschien mir das Vertraute bislang nicht interessant genug? »Sieh das Nahe, dann erkennst du das Fremde.« 

Ich habe diesen Satz mehrfach gewendet und ihn von immer anderen Gesichtspunkten aus betrachtet. Nicht die Geografie entscheidet. Die Seelen der Menschen bestimmen Fremde. Oder Nähe. Nach ersten Ängsten wurde ich berührungsneugierig. Das Abenteuer begann vor der Haustüre. 

Ich traf Menschen, die ihr Handwerk, ihre Kochrezepte, ihr Leben vorstellten. Ich durfte über ihre Eigenheiten lächeln und von ihrer Weisheit lernen. Das Alter ist ein Geschenk, wenn man nicht vergessen hat, was Anfangen heißt. Wie immer am Beginn eines Weges klopfte mein Herz wie verrückt und ich fühlte mich jung. Wahrscheinlich ist es das, wonach ich mich sehnte: ­Herzklopfen.

Himmelslicht: Wenn die rauen Nordwinde die Bäume an den Gestaden des großen Sees orange-rot verfärben.
© Martin Steinthaler,
Himmelslicht: Wenn die rauen Nordwinde die Bäume an den Gestaden des großen Sees orange-rot verfärben.

Das Burgenland hat sich herausgeputzt seit damals, als die alljährliche Expedition zum Weinhauer des Vertrauens ein festgefügtes Familienritual darstellte, wenn sich das Himmelslicht änderte und die rauen Nordwinde die Bäume an den Gestaden des großen Sees orange-rot verfärbten, als die Omama die Weinkisten mit dem Leergut in die wohlvertraute Hofeinfahrt schleppte, die Mutter das Kopftüchl des kleinen Buben festspangerlte, der Vater die heimlich gerauchte Nil austrat und die Sonntags­ausflügler die holprigen Steinstufen in den bacchantischen Keller hinunterstolperten. »Jöschaschna, ist das glatt!«, sagte dann die Mutter und krallte sich am Geländer fest wie ein Gecko. Unten geschah Jahr für Jahr das Wohlvertraute: Der Vater leckte sich gustierend die Lippen, die Mutter begann schon nach dem ersten Schluck zu kichern, die Omama verzog das Gesicht (»Höchstens ein Stamperl Eierlikör!«) und der Bub war zum ersten Mal an dem Tag zufrieden – das Tüchl und die klobigen Schuhe schützten gegen die Kellerkälte

Dies alles ist lange schon Geschichte. Vater, Mutter und Großmutter sind allesamt vorausgegangen und verkosten jetzt anderswo den jungen Wein, der dottergelbe Familien-Opel ist längst verschrottet, die Dopplerflaschen sind in anachronistischer Versenkung verschwunden, über dem Buben-Kopftuch liegt der Mantel des Schweigens, und, das Wichtigste, der heimische Wein lebt nicht mehr vom Ondit seiner selbst, sondern von der De-facto-Qualität einer neuen Winzergeneration

Seit den Neunzehnsiebzigerjahren haben kluge Köpfe jede Menge Grips und Kohle investiert – und das Ergebnis ist verblüffend. Das Land hat sich in allen Belangen selbst überholt. Unzählige große und kleine Initiativen halfen, zum europäischen Chimborasso kulturellen Selbstbewusstseins ­aufzuschließen. 

Weinland: Eine neue Winzergeneration hat das Land geprägt und verändert.
© Ina Prader
Weinland: Eine neue Winzergeneration hat das Land geprägt und verändert.

All die Veranstaltungen in Mörbisch und St. Margarethen, das Gidon-Kremer-Kammermusikfest in Lockenhaus, das Haydn-Festival in Eisenstadt, das länderverbindende »picture on festival« Bildein, das interkulturelle KUGA Großwarasdorf, nicht zu vergessen der Literaturweg Csaterberg, die Osliper Cselley Mühle, das Künstlerdorf Neumarkt, die Rabnitztaler Malerwochen, das Jazzfestival Wiesen und, und, und. 

Und erst die Vielfalt der Museen! Vom Auswanderermuseum Güssing, dem Erwin-Moser-Museum in Gols, dem Noever’schen »land art project« Breitenbrunn, dem Dorfmuseum Mönchhof, dem Museum für Baukultur in Neutal, dem Wimmer-Museum  Oberschützen bis zum Stiefelmachermuseum Rechnitz – und das sind, bei der »Ikone von Kasan« Potzneusiedl noch einmal bei Gott noch lange nicht alle!

Gidon Kremers Kammermusikfest Lockenhaus: Aufstieg zu einem kulturell herausragenden Bundesland.
© Niklas Schnaubelt
Gidon Kremers Kammermusikfest Lockenhaus: Aufstieg zu einem kulturell herausragenden Bundesland.

Wer bitte weiß schon um den »Kraftplatz Liebing«, um die größte »Marillengemeinde« Österreichs in Kittsee, um das Kanufahren im Drei-Länder-Eck des Naturparks Raab-Örség-Goricko? Wer kennt das Grasschizentrum Rettenbach oder das von der UNESCO in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommene Neckenmarkter Fahnenschwingen? 

Kurioses wie Erlesenes, Handwerkliches wie Überraschendes, Wohlschmeckendes und Gutriechendes. Naturwunder, Historie, Bedenkens- und Gedenkenswertes. Kaum ein Bundesland hält so viele Überraschungen parat wie die junge, alte Jubilarin!

Jost-Mühle: Wassermühle am Doiberbach in der Katastralgemeinde Windisch-Minihof.
©TV-Jennersdorf/JG.Photographix
Jost-Mühle: Wassermühle am Doiberbach in der Katastralgemeinde Windisch-Minihof.

Immer aber sind es die Schicksale der Menschen, die mich in ihren Bann ziehen: die der Stinatzer Kroaten, der Roma in Oberwart, der Kobersdorfer Juden, der Zwangsarbeiter von Rechnitz oder der Ungarn-Flüchtlinge in Andau. Ich habe ihnen zugehört, den Burgenländerinnen und Burgenländern und – ich durfte durch ihr Land reisen. 

Ein Land, wie es vielfältiger, entdeckensreicher nicht sein könnte. Vom großen See im Norden, dem Vogelparadies der Langen Lacke über die Höhen des mittelburgenländischen Geschriebensteins, von den mit Kellerstöckln überzuckerten Uhudler-Hügeln und den romantischen Flusskrümmungen der Raab zurück zu den Ausläufern des ­Leithagebirges und der weiten Ebene der Parndorfer Platte. Die Menschen des ­kleinen, großen Landes haben mich willkommen geheißen. Schöneres kann einem Reisenden nicht passieren. 

Das Burgenland ist 100! Ein Land, das sich hundertmal jünger anfühlt, als es ist.

Kraftplatz Liebing: Naturwunder, Historie, Bedenkens- und Gedenkenswertes. Kaum ein Bundesland hält so viele Überraschungen parat.
© Burgenland Tourismus
Kraftplatz Liebing: Naturwunder, Historie, Bedenkens- und Gedenkenswertes. Kaum ein Bundesland hält so viele Überraschungen parat.

Michael Schottenberg
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