Der Autor und Ökonom Dominik Flammer lebt und arbeitet in Zürich.

Der Autor und Ökonom Dominik Flammer lebt und arbeitet in Zürich.
© Tina Sturzenegger

Falstaff-Talk mit Dominik Flammer

Die Buchreihe sowie die TV-Serie «Das kulinarische Erbe der Alpen» beleuchten die kulinarische Vielfalt des gesamten Alpenraums. Autor Dominik Flammer verrät, warum sich die alpine Küche mit der Nordic Cuisine messen kann und wie es um den transalpinen Austausch steht.

Falstaff: In Tirol findet man kaum ­Südtiroler Produkte in den Restaurants, im Tessin kaum welche aus dem Piemont und in Graubünden kaum welche aus ­Vorarlberg. Es wirkt so, als wüssten die Regionen nichts von ihren Nachbarn. Stimmt das?

Dominik Flammer: Im Alpenraum funktioniert alles sehr kleinregional. Es ist in der Regionalität eine Mikroverortung vorhanden. Wenn wir in diesem Zustand hängen bleiben, wird sich die alpine Küche niemals so entwickeln können, wie es etwa die ­Nordic Cuisine getan hat. Der ­skandinavische Raum ist sechsmal grösser als der Alpenraum und gilt als kulinarische Einheit, das gelingt uns trotz der Fülle an Produkten und hochwertiger Gastronomie noch nicht.

Falstaff: Und trotzdem trifft man den Begriff «alpine Küche» immer häufiger an …

Es entwickelt sich vielerorts etwas, das ist richtig! Kluge Köche pflegen heute schon eine alpine Weinkarte und haben keine Angst davor, Produkte aus dem Nachbarland in ihr Menü einzubauen. Das ist Nachbarschaft.

Falstaff: War der transalpine Austausch in vergan­genen Zeiten stärker?

Nein, ich denke nicht. Der Austausch ist heute dank Social Media über den ­Alpenraum hinaus enorm. Gerade im Produktbereich passiert auch viel zwischen den alpinen Nationen. Früher ging der Austausch langsamer vonstatten und blieb intensiver hängen, heute ist vieles kurzlebiger.

«Die alpine Küche hat nur eine Chance, wenn wir Innovation und Austausch fördern.»
Dominik Flammer Autor und Ökonom

Der Autor Dominik Flammer setzt auf den Austausch zwischen den Köchinnen und Köchen der verschiedenen Alpenländer.
© Tina Sturzenegger
Der Autor Dominik Flammer setzt auf den Austausch zwischen den Köchinnen und Köchen der verschiedenen Alpenländer.

Falstaff: Wie definieren Sie den Alpenraum?

Für mich ist er ein Kulturraum. Er umfasst nicht nur die geologischen Alpenböden, sondern auch die Städte – Turin, Mailand, Triest, München, Wien, Salzburg, Zürich oder Grenoble. Wir brauchen diese urbanen Zentren. Die nordische Küche gäbe es ohne Kopenhagen, Oslo und Stockholm nicht.

Falstaff: Wo sehen Sie derzeit die grössten Innova­tionen im Alpenraum?

Im Bereich des Upcyclings, also der Weiterverwendung von Rohstoffen, gehören wir zu den Spitzenreitern weltweit. Grund dafür ist die grosse Vielfalt. Wir bauen verschiedenste Getreide an, um auch in schwierigen Jahren etwas zu essen zu haben. Reste aus der Käse- oder Getreideproduktion verwenden wir als Tierfutter. Diese Vielfalt und das Wissen darum stehen allen zur Verfügung – vor allem in der Sterneküche findet das Anklang.

Falstaff: Ist das nicht ein Widerspruch zur einstigen Arme-Leute-Küche der Alpen, dass die Bezeichnung heute vor allem im ­Sternebereich Verwendung findet?

Die Alpenküche ist nicht ärmer als die Küche Süditaliens, Marokkos oder ­Indiens. Das Wissen um die eigenen Produkte steht allen offen. Wer lokal einkauft und Food Waste verhindert, kann Kosten sparen, Geschichten erzählen und hat gute Chancen, ein eigenes Profil zu finden. Das ist dem Image jedes Lokals zuträglich.

Falstaff: Trotzdem: Das Bäuerliche prägt die Alpen. Viele Spezialitäten sind von der Konservierung geprägt. Ist die Expertise in diesem Bereich eine Chance?

Absolut. Wenn wir von Konservieren sprechen, meinen wir heute vor allem Fermentation. Diese wird im Alpenraum intensiv gepflegt. Käse ist fermentierte Milch, Wein ist fermentierter Traubensaft, das meiste Brot ist fermentiertes Getreide. Zudem ist man neugierig, was neue Kulturpflanzen und Methoden angeht. Auch wenn die Politik auf grosse Flächen und ertragreiche Sorten aus ist, gibt es eine Bewegung von Biobauern, jungen Landwirten, die keine Lust mehr haben, auf die Masse zu setzen.

Falstaff: Was ja wiederum sehr klug ist.

Ja, es ist ökonomisch klug! Die alpine Küche hat nur eine Chance, wenn wir die Innovation fördern und vorantreiben. Allerdings kommt die Innovation heute vor allem von der Produzentenseite und ­weniger von den Gastronomen.

Falstaff: Warum?

Es fehlen die Visionäre. Ferran Adrià hat mit seiner Vision im «El Bulli» eine ganze Bewegung geschaffen. Auch René Redzepi hatte eine Vision mit seinem «Noma», die er umgesetzt hat. Und war erfolgreich!

Falstaff: Welcher Koch könnte aus Ihrer Sicht so eine Vision im Alpenraum prägen?

(Zögert.) Für mich ist Heinz Reitbauer vom «Steirereck» in Wien der visionärste Koch im Alpenraum. Ich hoffe, dass er künftig auch noch grenzüberschreitender denkt. Es gibt noch einige Leute um Reitbauer herum, Josef Floh, Andreas Döllerer, Thomas Dorfer, Richard Rauch, die diese Ideen mittragen. Und auch einige neue Protagonisten erachte ich als vielversprechend.

Falstaff: Braucht es eine neue Köche-Generation, bis sich die alpine Küche etablieren kann?

Wenn es diese Vision gibt, könnte das helfen, ja! Viele junge Köche sind in der Welt herumgekommen und kehren extrem angefressen zurück. Wir müssen begreifen, dass Regionalität kein Trend ist, sondern eine langfristige Konstante, und dass regionale Küche ein wichtiges touristisches Tool ist. Sie ermöglicht es uns, nachhaltige, spannende Nahrung anzubieten, mit der wir ­langfristig als Alpenraum Erfolg haben.


Dominik Flammer

Der Autor und Ökonom Dominik Flammer beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit der Geschichte der Ernährung. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht der Alpenraum. Für Aufmerksamkeit sorgten insbesondere seine Bücher und TV-Produktionen unter dem Titel «Das kulinarische Erbe der Alpen». Zuletzt veröffentlichte er in der Reihe ein Buch über den Honig der Alpen, für das er gemeinsam mit dem österreichischen Wanderimker Johannes Gruber 49 Sortenhonige im Alpenraum aufgespürt und porträtiert hat. Flammer fördert die engere Zusammenarbeit zwischen Produzenten und der Gastronomie, um so echte Regionalität herzustellen. Der Ostschweizer lebt in Zürich und pflegt beste Kontakte in die österreichische Kulinarikwelt.

Erschienen in
Falstaff Nr. 09/2022

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Benjamin Herzog
Benjamin Herzog
Chefredaktion Schweiz
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