Das Schweizer Weingeheimnis
Das Lavaux am Genfersee gehört zu den spektakulärsten Reblandschaften Mitteleuropas.
© Switzerland Tourism / Andre Meier

Das Lavaux am Genfersee gehört zu den spektakulärsten Reblandschaften Mitteleuropas.
© Switzerland Tourism / Andre Meier
Perfektionismus, Qualität, Präzision und Pünktlichkeit – das alles sind Attribute, die einem Schweizer im Ausland vorauseilen. Es kann kein Zufall sein, dass dies auch Eigenschaften sind, die in einer Stellenausschreibung für einen Weinmacher nicht fehlen sollten. Nur sind die Eidgenossen eben auch bescheiden, verschwiegen und stehen ungern im Mittelpunkt – Schweizer Wein ist zwar oft exzellent, aber laut herausposaunen wollen das die allermeisten Schweizer nicht. Erst recht nicht, wenn sie die Schöpfer der genannten Tropfen sind.
Die Schweiz ist ein kleines Weinbauland. 2019 lag die Rebfläche bei 14.700 Hektar – in Österreich ist selbige bei ähnlicher Einwohnerzahl mehr als dreimal so gross. Die wichtigste Traubensorte in der Schweiz ist mit 28 Prozent der Gesamtrebfläche der rote Pinot Noir, dicht gefolgt vom Chasselas, dem Schweizer Paradeweisswein. Weinbau wird in allen 26 Schweizer Kantonen betrieben – in den Alpen also genauso wie im Norden an der deutschen Grenze, in der Region Bodensee, ganz im Westen am Juramassiv oder in der Zentralschweiz, die auch im eigenen Land eher für hohe Berge und tiefe Seen als für Spitzenweine bekannt ist. Das Weingut Ottiger beispielsweise baut erfolgreich Reben direkt am Vierwaldstättersee an, unweit der Stadt Luzern. Nicht nur den meisten Touristen, auch den meisten Bewohnern der Stadt bleibt das verborgen.
Über die Grenzen
Die meisten Schweizerinnen und Schweizer wissen wenig über den eigenen Wein. Jüngere Weintrinkerinnen und Weintrinker sind sich zwar bewusst, dass ein Schweizer Pinot Noir mit einem aus Frankreich durchaus mithalten kann. Ältere Generationen jedoch meiden den Schweizer Wein auch heute noch – insbesondere den in roter Farbe –, und auch in der Gastronomie spielt er meist eine untergeordnete Rolle. In vielen Zürcher Restaurants findet man keinen Zürcher Wein im Offenausschank. Man stelle sich das einmal in Wien vor! Dem Schweizer wohnt die Sehnsucht nach Sonne im Glas inne, und nicht wenige sind der Ansicht, dass das kühle Klima der Alpen für den Weinbau nicht geeignet sei. Italienischer oder spanischer Wein ist bei diesen Weintrinkern Trumpf, und die Säure, die in vielen Weinländern mit aller Kraft gesucht wird, gilt Schweizern häufig als Makel. Der Chasselas, der mit zurückhaltender Säure geradezu glänzt, ist zwar unter Weinkennern als Schweizer Wein bekannt – den Status eines Grünen Veltliners in Österreich hat er aber im grössten Teil des Landes nicht. Mit Ausnahme der Kantone Waadt und Wallis, wo auch der Grossteil der Anbauflächen dieser Sorte liegt.
Einer der bekanntesten Chasselas-Produzenten weltweit ist Louis-Philippe Bovard, dessen Reben in der legendären Weinregion Lavaux am steilen Ufer des Genfersees gedeihen. Bovard führt das Weingut seit 1983 in zehnter Generation und hatte von Anfang an das Ziel, die Region und sein Weingut international bekannt zu machen. Seine Chasselas-Weine gelten als besonders dicht und zeigen erst nach einigen Jahren der Reife, was wirklich in ihnen steckt. Wem sich die Grossartigkeit dieser Tropfen einmal erschlossen hat, der wird reich belohnt. Denn teuer sind Chasselas-Weine selten. Um die 30 Euro kostet etwa der legendäre Médinette Dézaley Grand Cru von Bovard.
Dem Schweizer Wein fehlt es an Identität. Grund dafür ist unbestritten die Vermarktung, die durch die verschwiegene, bescheidene Schweizer Eigenart selten so richtig Fahrt aufnehmen will. Im Gespräch mit Winzerinnen und Winzern zu diesem Thema fällt nicht selten das Beispiel des erfolgreichen ÖWM. Und genauso schnell wird man sich in diesen Gesprächen bewusst, warum eine gemeinsame Vermarktung und eine gemeinsame Identität für den Schweizer Wein nicht nur aus Bescheidenheit unmöglich zu verwirklichen ist. Zum einen verkaufen die Spitzenwinzerinnen und -winzer ihre Produktion, auch ohne viel investieren zu müssen, direkt ab Hof und – noch viel wichtiger – die Schweiz ist kein wirklich geeintes Land.
Die Realität der Winzerinnen und Winzer im frankophilen Waadtland oder im Wallis ist eine andere als die im italienisch geprägten Tessin oder in Graubünden. Allein, was die Preisstruktur der Weine, aber auch, was die Voraussetzungen für den Weinbau betrifft. Die grösste Herausforderung der Schweizer Weinwelt ist auch ihr kostbarstes Gut: die Vielfalt der Regionen und damit der Kulturen, Böden, Klimazonen und nicht zuletzt der Traubensorten. Schweizer Wein ist nicht gleich Schweizer Wein – die eidgenössischen Weine sind so vielfältig wie das legendäre Schweizer Taschenmesser.
Blick über den Tellerrand
Der Kanton Graubünden gehört zu den wenigen Landstrichen der Schweiz, der Weinliebhabern auf der ganzen Welt ein Begriff ist. Was die wenigsten wissen: Reben gibt es hier auf gerade einmal etwa 400 Hektar. Sogar die Weinregion Wien ist grösser! Dennoch ist die Qualität der Weine in Graubünden einzigartig. Das liegt einerseits an den Bodenstrukturen mit hohem Kalkanteil und andererseits am Mikroklima, das von Föhnlagen geprägt ist. Und dann hatte der Kanton Graubünden ganz einfach auch Glück. Das Glück, dass Martha und Daniel Gantenbein im Jahr 1982 hier ein Weingut gründeten. Sie setzten von Beginn an auf Topqualität und vernetzten sich dafür mit ebensolchen Winzern aus dem Ausland – der 2007 verstorbene Österreicher Alois Kracher etwa gehörte zu den wichtigsten Begleitern der Gantenbeins. Und so geschah es, dass die Gantenbeins ihren Wein zu exportieren begannen, lange bevor es andere Schweizer Topwinzer ihnen gleichtaten. Bis heute gehört der Gantenbein Pinot Noir zu den wenigen Schweizer Weinen, die auf den besten Weinkarten der Welt zu finden sind. Exportiert wird gerade einmal ein Prozent der Gesamtproduktion, und das vor allem im Topsegment.
Schweizer Burgunder
Markus Ruch aus Schaffhausen gehört zu den wenigen Schweizer Winzern, die aktiv exportieren wollen. Er begann im Jahr 2007 im Klettgau an der deutschen Grenze, eigene Reben zu bewirtschaften. Die Region ist nicht von den Alpen, sondern vom Kalkgestein des Juramassivs geprägt – ja, genau wie das Burgund! Markus Ruch gehörte zu den Ersten, die dieses Potenzial nicht nur erkannten, sondern auch kompromisslos auszuschöpfen versuchten. Seine Weine gehören zu den besten, feinsten, elegantesten und ausdrucksstärksten Pinot Noirs weltweit – und das sagen nicht nur Schweizer.
Auch Ruch ist ein eher zurückhaltender Mensch, würde sich nie selbst loben. Den Leuten im Ausland zu zeigen, was hier möglich ist, das war ihm aber von Beginn an wichtig. Das Klettgau ist nicht die einzige Schweizer Region, die mit dem Burgund vergleichbare Bodenstrukturen aufweist. Auch die Winzerinnen und Winzer in der Region Neuenburg – auf der Schweizer Seite des Juramassivs gelegen – können darauf setzen. Auf der Domaine de Chambleau von Familie Burgat etwa wird das Jahr für Jahr eindrücklich bewiesen. Ihr Pinot Noir Pur Sang gehört zu den ausdrucksstärksten Vertretern seiner Art – ein echtes Schweizer Weingeheimnis, rar und ebenso grandios.
Markus Ruch erlernte sein Handwerk selbstverständlich im Burgund, aber längst nicht nur dort! Zu seinen Stationen gehörte auch das Weingut von Christian Zündel, eine echte Schweizer Winzerlegende. Zündel, gebürtiger Zürcher und Bodenkundler, kam in den 1980ern ins italienisch sprechende Tessin südlich der Alpen, wo er sich von Beginn an auf die Suche nach dem Ausdruck seiner Lagen machte. Seine reinsortigen Merlot-Weine sind herausragend, genauso wie die raren Chardonnays. Mittlerweile ist Zündels Tochter Myra dabei, sich das Handwerk des Vaters anzueignen. Die ersten Resultate – darunter ein Rosé aus Merlot – sind mehr als vielversprechend.
Mächtige Alpen
Die Alpen prägen den Grossteil der Schweiz, das gilt auch für den Weinbau. Denn das Bergmassiv hat nicht nur dafür gesorgt, dass sich in abgelegenen Tälern bis heute eigene Sprachen erhalten konnten, sondern auch dafür, dass hier noch Rebsorten kultiviert werden, die andernorts längst ausgestorben sind. Der grösste Weinbaukanton der Schweiz, das Alpental Wallis, verfügt auch über den grössten Rebschatz des Landes. Zwar dominieren hier ebenfalls Pinot Noir und Chasselas, doch autochthone Spezialitäten erfreuen sich wachsender Beliebtheit.
Zu den Sorten mit dem grössten Potenzial gehört die weisse Petite Arvine, die im Wallis heimisch ist. Deren Vorzüge sind bekannt dank Winzerinnen wie Marie-Thérèse Chappaz, die daraus nicht nur einen exzellenten Weisswein, sondern auch den wohl legendärsten Süsswein der Schweiz keltert. Die Vorzüge der Sorte Petite Arvine haben sich – wie die Vorzüge des Schweizer Weins im Allgemeinen – längst herumgesprochen. So wurde Petite Arvine bereits von Michel Chapoutier im Rhônetal oder von Angelo Gaja in der Langhe experimentell angebaut. Leider ohne ernst zu nehmenden Erfolg. Die Sorte fühle sich zu Hause im Wallis eben doch am wohlsten, war die nüchterne Erkenntnis. Getrunken werden darf sie aber dennoch gerne auch ausserhalb der Schweiz.