Christian Zündel: Winzer im Zeichen der Reflexion

Zweifeln, fragen, überlegen, handeln: Die Maximen des Tessiner tun seinem Wein gut.

Wir sitzen in Christian Zündels Küche und trinken Tee. Wein gibt es später. Es braucht ihn nicht, um die Zunge zu lockern. Ein Gespräch mit dem Tessiner Winzer verläuft immer animiert. Zwar nuschelt er wie gewohnt. Man muss sich konzentrieren, um den Faden nicht zu verlieren. Doch die Anstrengung wird durch die Substanz seiner Überlegungen postwendend belohnt.

Christian Zündel bewohnt mit seiner Frau Anne De Haas, einer Textilgestalterin, die ihr Atelier über dem Weinkeller ihres Mannes betreibt, ein altes lombardisches Bauernhaus in Beride, einem Dörfchen im Malcantone, jener rauen Hügellandschaft westlich von Lugano zwischen dem See und der italienischen Grenze. Die beiden Kinder sind ausgeflogen. Manuel, der Sohn, steht vor dem Abschluss als Maschinenbauer an der ETH Zürich. Myra, die Tochter, absolviert derzeit ein Praktikum auf dem sizilianischen Weingut Cos.

Vom Gemüsebauer zum Winzer
Der Stadtzürcher kam 1976 als junger promovierter Bodenkundler ins Tessin, mit dem er über seine Grossmutter verbunden war. Er dilettierte zunächst als Gemüse- und Beerenbauer, bevor er es mit Reben versuchte und 1986 seinen ersten Jahrgang kelterte. Es herrschte Aufbruchsstimmung damals im Tessin des Merlot. Junge, gut ausgebildete Winzer schufen, angeführt von Werner Stucky, für den «Merlot del Ticino» einen neuen, am Bordeaux orientierten Weinstil. Ihre Bibel war «Le goût du vin» des Önologie-Professors Émile Peynaud. Auch Christian Zündel las seinen Peynaud. Genauer vermutlich als seine Kollegen, denn wenn er einer Sache auf den Grund geht, tut er das ohne Rücksicht auf Verluste von liebgewonnenen Überzeugungen. Er kelterte rabiat mit langer Maischestandzeit und verwegenem Barriqueausbau. Er erzeugte strenge Strukturweine, die das manchmal fragile Traubenmaterial nicht immer adäquat interpretierten.

Diese Einsicht ereilte ihn allerdings erst im Rückblick. Innerhalb ihres zeitgenössischen Umfelds gehörten seine Weine damals zur Avantgarde. Schlüsselerlebnis und Anstoss zur vinifikationstechnischen Neujustierung war der Jahrgang 2007. «Den verkorkste ich damals», sagt er heute selbstkritisch. Das heisse, trockene Jahr hätte eine sanftere Tanninextraktion verlangt.

HINTERGRUND: Weinbereitung und Weine auf einen Blick

Das Tessin ist auch ideales Weissweinland
Wie lang der Weg ist, den Christian Zündel in seinen bald 30 Winzerjahren zurückgelegt hat, zeigen die Weine, die er nun nach dem Tee aus dem Keller holt. Es sind abfüllbereite Fassmuster des Jahrgangs 2013. Wir probieren den Dosso, einen Chardonnay von einer Moränenkuppe. Mineralisch, straff und frisch, erinnert er an einen Chablis Premier Cru. Ausgebaut in gebrauchten Burgunder Piècen bleiben die Holznoten wohlwollend dezent. Hingerissen von einem Puligny-Montrachet Les Enseignères von Coche-Dury, getrunken am 15. Oktober 2000, begann Zündel sich intensiv mit Chardonnay und seiner burgundischen Kelterungsvariante zu beschäftigen. Er pflanzte die Sorte und erntet nun die Frucht der Anstrengung. Sie bringt ihm die Erkenntnis, dass das Tessin «als kühlste und feuchteste Anbauregion der Alpensüdseite auch ein ideales Weissweinland ist.»

Blick vom Park der ­Villa Orizzonte auf Castelrotto.«Das Prinzip des defensiven Invecchiamento»
Nach dem Chardonnay wechseln wir auf die Roten. Christian Zündel erzeugt aus den Trauben seiner knapp vier Hektaren Reben in Beride und Castelrotto hauptsächlich zwei Rotweine: den reinsortigen Merlot Terraferma und den Orizzonte, eine Cuvée aus 95 Prozent Merlot und fünf Prozent Cabernet Sauvignon. Beide Weine haben in den letzten Jahren Ballast abgeworfen. Sie sind einfacher, aber nicht simpler, sie sind subtiler geworden. Sie zeigen eine reife Frucht, moderates, feinstes Traubentannin, sind frisch und trocken. Keine Schwergewichte, sondern elegante Vertreter der Mittelgewichtsklasse. Noble, aber unpompöse, unaufdringliche Begleiter der Tessiner Südalpenküche. Der Orizzonte besitzt mehr Facetten und grössere Tiefe; der Terraferma punktet mit seiner angenehmen Trinkigkeit. Mit dem Jahrgang 2013 nähert sich Christian Zündel seinem Ideal eines Herkunftsweins. «Der Merlot wurde nach der Reblauskatastrophe importiert und in einer Tabula-Rasa-Aktion ganzflächig angepflanzt. Es ist keine insubrische Sorte. Nun versuche ich ihn, in die insubrische Richtung zu bringen und damit die fremde Sorte zur hiesigen zu machen.» «Insubrisch» bezieht sich auf das spezifische Tessiner Klima zwischen Trockenheit und Feuchtigkeit, zwischen Wärme und Kälte, Milde und Härte.

Christian Zündels Methode dafür ist eine Kelterung nach dem Motto: «So wenig wie möglich und soviel wie nötig.» Er arbeitet mit safteigenen Hefen, praktiziert die Ganzbeerenvergärung, extrahiert sehr vorsichtig, verschiebt den Säureabbau in den Frühling, zieht minimal um und braucht nur noch zehn Prozent neues Holz. Er nennt seine Methode «das Prinzip des defensiven Invecchiamento» – im Gegensatz zu jenem der «offensiven Elevage». Er sagt: «Früher kelterte ich offensiv, heute defensiv.»

Wein aus biologisch-dynamischen Landwirtschaft
Immer wieder aber kehren wir beim Degustieren und Fachsimpeln gedanklich in den Rebberg zurück. Zündels im Laufe der Jahre zurückhaltender und schonender gewordene Vinifikation wäre ohne einen vergleichbar skrupulösen Rebbau nicht möglich. Seit 2003 arbeitet der Winzer biologisch mit Anlehnungen an der biologisch-dynamischen Landwirtschaft. Nach viel Gedankenarbeit und praktischen Experimenten mit unterschiedlichen Erziehungssystemen hat sich dieser, im Tessin mit seinem feuchtwarmen Klima besonders beschwerliche Weg als der einzig gangbare erwiesen. Er wird ihm auch dieses Jahr, das im Zeichen seiner 30. Ernte steht, treu bleiben. Er kann sich dabei auf eine grosse Erfahrung verlassen. Sie lässt ihn gleichmütiger und gelassener auf die Herausforderungen reagieren, die jedes Weinjahr von neuem wieder parat hält.

Zündels Chardonnay zeigt, dass das Tessin als kühlste und feuchteste Anbauregion der Alpensüdseite auch ein ideales Weissweinland ist.

Text von Martin Kilchmann
Aus Falstaff-Magazin Nr. 05/2015

Martin Kilchmann
Martin Kilchmann
Wein-Chefredakteur Schweiz
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