Im Herzen des Sopraceneri: Blick von Madonna del Sasso auf den Lago Maggiore.

Im Herzen des Sopraceneri: Blick von Madonna del Sasso auf den Lago Maggiore.
© Shutterstock

Bondola Tessin: Einmaliger Grotto-Wein

Bevor im Tessin der Merlot als Spätfolge der Reblaus-Katastrophe seinen Siegeszug antrat, war die Bondola die wichtigste Rebsorte des Sopraceneri. Heute halten noch wenige widerständige Winzer daran fest und keltern einen Tropfen, der zu Coppa, Salami und Formaggio passt.

Die Hitze hält an diesem Junimorgen das Tessin schon früh im Griff. Die schmale Strasse windet sich von Sementina den Steilhang zum Weingut Mondò hoch. Die Reben sind zwischen Felsen und Buschwald eingeklemmt. Der Blick reicht von Bellinzonas Burgen bis zur Mündung des Ticino in den Lago Maggiore. Er schweift über die Magadinoebene, die dem langge-zogenen Hügel – der «Sponda destra» – vorgelagert ist und an Tagen wie heute die flirrende Luft aufheizt. Wir sitzen drinnen im kühleren Degustationsraum der Azienda Mondò. Giorgio Rossi entkorkt einen frischfruchtigen Rosato. Der passt jetzt besser als etwa sein eleganter Merlot Ronco dei Ciliegi.
Der knackige Wein stammt aus der Rebsorte Bondola. Rossi keltert neben Anna Nespoli aus Novazzano im südlichsten Zipfel des Kantons aus Bondola einen Rosé. «Es ist ein süffiger Tropfen für die Weinbars, entstanden aus der heiteren Laune einer fidelen Stammtischrunde.» Giorgio Rossi erzeugt natürlich auch einen seriösen Bondola. Dessen Name «Bondola del Nonu Mario» offenbart, dass er als Hommage an Grossvater Mario gedacht ist. Giorgio erzählt: «Mein Grossvater war ein Bauer. Er besass ein paar Kühe und Ziegen, mit denen er auf die Alp zog. Daneben war er Jäger und Winzer. Die Trauben verkaufte er der Genossenschaft.» Einen Teil der Bondola-Ernte hatte Mario aber immer selber gekeltert. Giorgio erinnert sich, wie er dabei als Junge geholfen, die Trauben mit den Füssen gestampft und wie sich im Keller während der Gärung ein schwerer Duft nach frischem Most ausgebreitet hatte, der ihm noch heute als olfaktorische Erinnerung im Gedächtnis gespeichert ist.
Diese Erinnerung ist wohl unter anderem dafür verantwortlich, dass Rossi Winzer wurde. Denn vorgespurt war der Weg nicht. Giorgios Vater hatte sich von der Scholle gelöst und dem jungen Rossi das Ingenieurstudium ermöglicht. «Parallel zum Beruf kümmerte ich mich zusammen mit meinem Bruder Andrea aber stets um die in der Familie verbliebenen Rebstöcke.» Dabei gerät er allmählich wieder in den Bann der Winzerei. 1993 keltert er 300 Liter eigenen Wein. 1994 sind es 600 Liter. Seit 1997 lebt er vom Weingeschäft. 1999 wurde ein Keller erbaut. Heute erzeugt der 47-Jährige aus sieben Hektaren Reben rund 35.000 Flaschen.

Die Bondola-Traube wächst an den Hängen oberhalb der Magadinoebene.
Foto beigestellt
Die Bondola-Traube wächst an den Hängen oberhalb der Magadinoebene.

Eine Tessiner Ausnahmerebe

Giorgio Rossi ist ein Romantiker. Es zog ihn zu den Wurzeln zurück. Und diese Verbundenheit mit dem Erbe zeigt sich vorzüglich am Festhalten am Bondola. 
Bondola ist eine alte Tessiner Rotweinsorte. Sie wurde schon vor dem auf 1897 datierten Einfall der Reblaus angebaut. Im Sopraceneri, dem oberen Kantonsteil, zu dem Sementina gehört, war sie die meistverbreitete Traube – im Sottoceneri, südlich des Monte Ceneri, kam diese Rolle der heute in Vergessenheit geratenen Margellana zu. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde dann aber die Bondola vom importierten, qualitativ hochwertigeren Merlot abgehängt und fristet heute mit einer Anbaufläche von zehn Hektaren ein Nischen-dasein. Rund 50.000 Bondolastöcke stehen noch in den Weinbergen des Sopraceneri, der Merlot bringt es auf weit über drei Millionen Pflanzen. Rossis in Barriques und 500-Liter-Fässern aus französischer Eiche ausgebauter «Bondola del Nonu Mario» ist die feinsinnigste Interpretation dieser zwar eigenständigen, aber auch rustikalen und säurereichen, herben Rebsorte. Seine Ausnahmestellung verhalf ihm zu einem Platz in der Schatz­kammer des renommierten «Mémoire des Vins Suisses», der Vereinigung der besten Schweizer Winzer.
Nur wenige Kilometer westwärts Richtung Locarno, oberhalb von Gudo, liegt in einem alten Rustico der Keller von Stefano Haldemann. Wie bei Giorgio Rossi sind seine insgesamt sechs Hektaren zählenden Parzellen über die ganze Sponda destra verstreut. Eingezwängt in eine einzige Siedlungswucherung, teilweise in der Bauzone liegend, scheinen sie wie ein Flickenteppich. «Die Verbindungswege sind verschlungen, sie zu befahren ist zeitaufwendig. Die Strecke ist um ein Vielfaches länger als die Luftlinie», sagt er. Und wie bei seinem Kollegen sind sie permanent be­­droht – durch neu entstehende Einfamilienhäuser, aber vor allem durch Wildfrass: «Im Frühling richten Rehe und Hirsche, im Sommer und Herbst Wildschweine, Dachs und Fuchs empfindlichen Schaden in den Reben an.»
Stefano Haldemann, ein Vollblutwinzer mit Deutschschweizer Wurzeln, geboren und aufgewachsen indes im Tessin, stellt das Licht seiner Weine gerne unter den Scheffel. 

Giorgio Rossi erzeugt mit dem «Nonu Mario» den schönsten Bondola des Tessins.
Foto beigestellt
Giorgio Rossi erzeugt mit dem «Nonu Mario» den schönsten Bondola des Tessins.

Hinter seiner bescheidenen Art verbirgt sich jedoch ein starkes Selbstbewusstsein sowie eine gewisse Sturheit, die sich in der Rettung von alten Rebbergen und einer fast schon archäologisch zu nennenden Erforschung und Bewahrung von vergessenen Rebsorten ausdrückt. Er hat bei sich zu Hause in Minusio einen Rebsortengarten mit sechzig Sorten angelegt und figuriert als Experte bei der Initiative «ProSpecieRara». Seine Weine besitzen stets einen kernigen, authentischen Charakter und einen fairen Preis.
Angesichts dieser Attribute erstaunt nicht, dass Stefano Haldemann auch Bondola anbietet, ja die Sorte geradezu liebt und sie in- und auswendig kennt. «Bondola ist eine ertragreiche Sorte. Ich setzte sie gerade jüngst in eine magere, sandige Lage, um ihr Wachstum zu bremsen», sagt er. Ihr Name verweist vermutlich auf die starke Wüchsigkeit. «Abbondante» heisst reichlich, reich, im Überfluss vorhanden. Sie ist eine historische Keltersorte und im Verzeichnis von «ProSpecieRara» aufgeführt.

Stefano Haldemann liebt die alten Tessiner Sorten, keltert aber auch einen charaktervollen Merlot.
Foto beigestellt
Stefano Haldemann liebt die alten Tessiner Sorten, keltert aber auch einen charaktervollen Merlot.

Die Bondola ist eher spätreifend, wird aber wegen ihrer Fäulnisanfälligkeit meist früher als der Merlot geerntet. Regnet es gegen Ende der Vegetationszeit und während der Ernte, beginnen die Trauben rasch zu faulen. Aus­geprägt sind denn auch die Jahrgangsschwankungen. Während das feuchte, von der Kirschessigfliege heimgesuchte Jahr 2014 nur bescheidene Qualitäten ergab, trumpfte der wärmere und trockenere Jahrgang 2015 mit erfreulichen Weinen. Generell gehört die Bondola zu den Gewinnern der Klimaerwärmung. Sie erreicht heute regelmässig 80 bis 85 Grad Öchsle. Früher kam sie jeweils bloss auf 70 bis 75 Grad. Entsprechend garstig fiel der Wein dann meistens aus. «Für Bondola braucht es einen dicken Steintisch, um sich daran festzuhalten, so sauer ist er», pflegten die alten Tessiner zu sagen.

Die Bondola-Traube ist ertragreich, spätreifend, wird aber wegen ihrer Fäulnisanfälligkeit vor dem Merlot geerntet.
Foto beigestellt
Die Bondola-Traube ist ertragreich, spätreifend, wird aber wegen ihrer Fäulnisanfälligkeit vor dem Merlot geerntet.

Würden mehr an ihn glauben, könnte der Bondola im Tessin eine Rolle spielen wie der Dolcetto im Piemont.

Kurzum: Der Bondola gerät weder unter Rossis noch Haldemanns geschickten Händen zu einem wirklich noblen Wein. Der Merlot ist ihm an Komplexität und Eleganz überlegen. In seinem kulinarischen Wappen stehen Salami und Risotto, und er versprüht herbe Grotto-Romantik. Die beiden Winzer beweisen aber, dass aus dem Stoff des Bondola ein durchaus charaktervoller, unverwechselbarer Wein zu schneidern ist. Ein Wein, der, unprätentiös und aufrecht, im Tessin eine ähnliche Rolle spielen könnte wie der Dolcetto im Piemont. 
Tasting: Best of Bondola
Aus dem Falstaff Magazin Nr. 05/2017.

Martin Kilchmann
Martin Kilchmann
Wein-Chefredakteur Schweiz
Mehr entdecken
Weingut
Azienda Mondò
Der Bondola del Nonu Mario ist eine rare und viel geliebte Tessiner Spezialität des von den...
Al Mondò , 6514 Sementina
Mehr zum Thema