Alt, aber gut: Gnaggi trifft Prada

Omas Küche ist wieder gefragt – und natürlich ­unerreicht, denn kein Koch kann gegen Erinnerungen ­bestehen. Na ja, fast keiner.

Bei meiner Grossmutter Rosa, die für mich meine Omama war, sass ich oft in der grossen Beizenküche am langen Tisch, fasziniert von den Düften, die da aus den Töpfen vom Holzherd kamen. Sie war eine bescheidene Frau, mit feinem Humor, ihrer Zeit voraus, interessiert, liebevoll und eine grossartige Köchin. 1895 geboren, war sie mit vielen alten Rezepten vertraut, die mich faszinierten. Tricksen konnte sie auch, kam bei ihr doch nicht Kalbskopf, sondern »Tête de veau« auf den Tisch, was ich schon als Knirps liebte, ohne zu wissen, was ich da ­eigentlich ass.

Zur Adventszeit duftete es in ihrer Küche noch einen Zacken intensiver, stets im Spagat zwischen süss und salzig. Dann tischte sie »Schnitz und Drunter« auf, einen Eintopf, den sie mit Kartoffeln, getrockneten Birnen und Kochspeck zubereitete. Der Höhepunkt war damals der Heiligabend, an dem es bei meiner Omama immer Milken-Pastetli gab. Wunderbar war das. Natürlich spielten das Christkind, der glitzernde Tannenbaum auch eine Rolle, genauso wie die Mitternachtsmesse, die zum Pflichtprogramm gehörte… In Erinnerung geblieben sind mir aber Omamas Pastetli und der üppig verwendete Weihrauch in der Kirche. Ihre Küche ist bei mir als ein Sammelsurium wundervoller Düfte auf der Zunge und am Gaumen für ­immer haften ­geblieben.

Und heute?
Omas Küche liegt im Trend. Dies, obwohl die Gründe, eine Beiz aufzugeben, zahlreicher denn je sind. Dabei gehören reelle Gast­häuser von den Behörden nicht mit unsinnigen Vorschriften geplagt, sondern unter ­Artenschutz gestellt. Geführt und betrieben werden solche Beizen von einigen Unentwegten und mutigen Querdenkern, die sich nicht scheuen, das Alte zu bewahren. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Überzeugung an der Sache. Es sind Gastgeber, die nichts von Aufgabe wissen wollen und ihr Gasthaus auch im 21. Jahrhundert mit viel Herzblut bewirtschaften. Von solch stimmungsvollen Beizen und ihren Machern sei hier die Rede. Es ist zugleich der Versuch einer persönlichen Liebeserklärung an fünf patinierte Oasen.

Das »Bären« in Birrwil ist ein Muss für Fans traditioneller Küche / Foto: Marco AsteEin toller Hecht
Max Eichenberger ist die lebende Fischkochlegende am Hallwilersee. Sicher gibt es kreativere Köche, aber keiner trägt schönere rote Hosenträger, und keiner kocht den Hecht besser als Max. Heute sterben nicht nur die Fischarten in den Schweizer Seen aus, sondern auch seine Berufsfischer und das letzte Glied in der Kette, die klassischen Fischköche. Nun, es gibt Ausnahmen. Max Eichenberger im »Bären« in Birrwil ist so eine. Seines Zeichens Wirt, Koch und Denker. Die Siebzig hat er putzmunter überschritten, doch von Pensionierung will er nichts wissen.

Kürzertreten, die Öffnungszeiten reduzieren, Gott bewahre! Oder doch? Na ja, wenn es denn sein muss. »Es muss«, sagt seine Frau Dora, was die Stammgäste kommentarlos hinnehmen, sind sie doch alleine über die Tatsache froh, dass der »Bären« überhaupt noch geöffnet hat. Bei Max kommen weder Zucht- noch Meerfische, noch gefrorene Ware in die Küche. Haben seine Fischer kein Fangglück, gibt es bei ihm Fleisch statt Fisch. Schweinsfüsse an einer Morchelsauce (nach Saison) oder Cordon bleu zum Beispiel. Und sonst? Sein ausgebackener Hecht und die ­Felchen an brauner Chilibutter lohnen die Wartezeit, für die der »Bären«-Max berühmt-berüchtigt ist. Wer also in den »Bären« geht, hat und nimmt sich viel Zeit oder lässt es gleich bleiben. Möge das mit Max noch ­lange so weitergehen.

Max und Dora Eichenberger: gross­artige Fischküche / Foto: Marco Aste

Schulterspitz vom Kalb mit Kartoffel-Stock und Gemüse im »Blauen Engel« in Rüfenach / Foto: Marco AsteAlles bleibt anders
Versteckt, unscheinbar und verwunschen steht er zwischen Häusern, Scheune und Stall. Kein Hinweisschild führt zu ihm. Braucht ein Engel auch nicht. Schon gar nicht, wenn er blau ist. Wer nicht weiss, wo er steht, übersieht ihn, den »Blauen Engel«. Er, der nach den berühmten Wirtinnen Lise, Gret und Anni verwaiste, wurde vor einigen Jahren von Christophe Martin zu neuem ­Leben ­erweckt. Der »Blaue Engel« überzeugt mit Speis und Trank und mit Gastfreundschaft, die das ganze Team rund um den Patron mitträgt und dem das Zwischenmenschliche genauso wichtig ist wie Qualität und Typizität. Das wird dem Gast sehr schnell ­bewusst. Beim Lächeln zur Begrüssung, beim Holzofenbrot, bei den Freiland­eiern, beim lokalen Wein und Bier, bei den Hausschnäpsen, beim Kotelett oder ganz banal bei der Rauchwurst, die schlicht perfekt ist. Oder eben beim Sonntagsbraten, der hier so schön zelebriert wird, dass ein Teil seiner Gäste extra aus Zürich und Basel anreist. Schön so. Gut so.

Schwein gehabt
Wer während des Altweibersommers bei Heid Basler im »Barmelhof« einen Stuhl ergattert, hat bereits im Frühling reserviert oder Schwein gehabt, ganz im Gegensatz zum Schwein. Die Luft auf dem »Barmelhof« riecht würzig, der Raum ist in Dampf ­gehüllt, die Schlachter sind zufrieden. Es ist eine verschworene Gesellschaft, die sich in diesen Tagen hilft, um den Appetit der ­zechenden Gästeschar in Schach zu halten, die schwitzt, lacht, trinkt, singt und Nachschlag bestellt. Leberwürste, Koteletts, Rauchwürste, Speck, Apfelschnitze, Rösti, Sauerkraut, die Metzgete im »Barmelhof« bietet diverse kulinarische Nebenrollen. Meine Hauptdarstellerin ist aber die Blutwurst. Ja, ich liebe den »Barmelhof« an kalten ­Tagen. Dann, wenn vor der Türe der Wind heult, sich die grellgelbe Wintersonne auf einmal durch eine dicke, graue Wolkendecke kämpft und für einige Sekunden ihre Sonnenstrahlen in der Stube platziert. Das sind ruhige, schöne Momente. Gute Tage im Winter.

Dessert aus vergangenen Zeiten, saisonal interpretiert: »Fotzelschnitte« mit Rhabarber und Erdbeeren / Foto: Marco Aste

Von grossen Appetiten
Bei Alex Rufibach einkehren setzt Appetit voraus. Und Durst. Pinzettenesser und militante Vegetarier werden im »Gasthof zum Brunnen« nicht glücklich. Wer aber eine sorgfältige Küche zu schätzen weiss, hat seine Schlaraffia entdeckt. So wild wie Rufibach aussieht, so verrückt ist er tatsächlich. Er ist ein Besessener im positiven Sinn. Stets auf der Suche nach dem ultimativen Geschmack. Seine Viecher, die er verarbeitet, stammen aus artgerechter Tierhaltung, sie wissen noch, wie eine Weide aussieht. Hecht und Zander schiebt er, fangfrisch aus Schweizer Seen, ganz in den Ofen. »Swissness« ist bei Alex Rufibach kein theoretisches Lippenbekenntnis, sondern Programm. Seine gut bestückte Weinkarte ­besteht aus Schweizer Provenienzen. Alleine sein Weinkeller ist den Besuch wert. Sparen fürs Alter. Warum? Das Leben findet heute statt. Mit Verstand in Weine investieren ist die bessere Kapitalanlage. Und auch die Verwertung des ganzen Viehs gehört zu seiner Kochsprache und wird von seinen Stamm­gästen geschätzt. Kalbskopf, Kutteln, ein ­Ragout aus Lunge und Herz, Hirn, Ochsenmaulsalat und mehr. Es geht aber auch harmloser. Mit einem panierten Schweinskotelett, mit bretonischem Hummer oder mit seinem berühmten »Suure Mocke«. Beim Dessert warten Klassiker wie »Fotzelschnitte« und gebrannte Crème. Und Käse? Ja, klar. Direkt von der Alp. Rohmilchkäse in Bestform. Das Leben ist schön.

Das Glück sitzt bei Jacqueline Guyot am Tisch: Essen im »Chez le Baron« ist auch für Kaminfeger eine Reise in die Vergangenheit / Foto: Marco Aste

Eine Reise nach damals
An der Ecke lauert der Hund, in der Sonne schläft die Katze, im Gehege stolziert der Pfau, und in der guten Stube schöpft Madame Guyot die Linsensuppe. Hier Silvester feiern wäre was. Mitternacht würde Stunden dauern, zumal in der Beiz rund 30 Standuhren stehen und zehn Pendulen hängen. Keine tickt gleich, keine geht mit der Zeit. Wer hierher kommt, hat sie, und wer hier essen will, ruft mindestens einen Tag vorher an und bestimmt das Gericht mit oder lässt sich überraschen. Ein Mittagessen im »Chez le Baron« ist eine Reise nach damals. ­Puristen werden jubeln, Trendsetter sich fragen, was um alles in der Welt sie hier verloren haben, Vegetarier kommen schon erst gar nicht hin. Den abgelegenen Hof betreiben Mama Janine, Tochter Jacqueline und Enkelin Aline Guyot. In der Beiz umsorgt Jacqueline ihre Gäste, während am Herd Mama ­Janine die Suppe abschmeckt und die Mitköchin Gilberte Thomann ein grosses Stück Fleisch in den Ofen schiebt. Das Menü ­beginnt oft mit einer ­Gemüse- oder Linsensuppe, gefolgt von einem Poulet oder einem Braten aus dem Ofen. Es kann aber auch ein warmer Beinschinken oder ein Kaninchen sein. Wer Wein mag, wird für einen Augenblick vertröstet, bis Madame mit einigen ­Flaschen in den Händen an den Tisch zurückkehrt. Der Gast wählt, Madame entkorkt und schenkt in kleine Gläser ein. So geht das hier. Nach der »Plat principale« warten der Früchtekuchen und der hauseigene Enzian, der hilft, das Mahl zu verdauen. In der Ferne kräht der Hahn, der Abend bricht herein, die Platten sind leer, die Gläser auch – in der guten Stube ticken noch immer die Uhren. Ab und zu wird eine von ihnen verkauft, ihre Anzahl variiert, das Ticken bleibt, die Stammgäste auch.

>>> Omas Küche: Tipps und Adressen

Text von Martin Jenni aus Falstaff Schweiz 01/15

Martin Jenni
Autor