Saint-Émilion wurde in den Neunzigerjahren zur Heimat der »Garagen-Weingüter«: Deren Mini-Produktion umfasste manchmal nur 1000 bis 2000 Flaschen.

Saint-Émilion wurde in den Neunzigerjahren zur Heimat der »Garagen-Weingüter«: Deren Mini-Produktion umfasste manchmal nur 1000 bis 2000 Flaschen.
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1990er: Die Bordeaux-Dekade des Jahrhunderts

40 Jahre Falstaff: Die Neunzigerjahre waren im Bordeaux eine Dekade des Umbruchs: Neuen Philosophien folgten neuartige Verarbeitungsmethoden.

Im Bordeaux begannen die Neunzigerjahre eigentlich mit dem Jahrgang 1988. Diese Aussage ist zum einen im ganz wortwörtlichen Sinn ko­rrekt, da die 1988er-Weine die ersten waren, die in den Neunzigern physisch ausgeliefert wurden. Zum anderen setzte das glorreiche Jahrgangstrio, das mit 1988 seinen Anfang nahm und im fabelhaften 1990er kulminierte, den Ton für die Entwicklung von Märkten, Preisen und Stilen der ganzen Dekade.

Die erste Ernte der Neunzigerjahre war ein Bilderbuch-Herbst: Nach einem heißen, trockenen Sommer zogen Anfang Septem­ber 1990 Schauer auf – und brachten die genau richtige Wassermenge, um der Reife den letzten Kick zu geben, ohne die Gesundheit der Trauben zu beeinträchtigen. Die – gerade auch ökonomische – Euphorie aus den Jahrgängen 1988, 1989 und 1990 bekam in den Folgejahren allerdings erst einmal einen mächtigen Dämpfer: 1991 verloren die Bordeaux-Winzer durch einen verheerenden Spätfrost am 21. April zwei Drittel ihrer Ernte.

Auch qualitativ ist 1991 im besten Fall ordentlich – und damit immerhin noch etwas besser als 1992: ein Jahrgang, der durch einen Mangel an Sonnenstunden und durch Regen zur Lese gekennzeichnet war. Auch die Jahre 1993 und 1994 ließen die damals noch zahlreichen Bordeaux-Subskribenten, die auf einen weiteren Spitzenjahrgang und damit auf eine Fortsetzung des Preisanstiegs hofften, in der Warteschleife. Während 1993 zu trocken begann und dann alle Hoffnungen im Dauerregen ertränkte, brachte 1994 Frost – und dann Regen im September.

Der erste Jahrgang, der die Stimmung nach dieser Durststrecke wieder aufhellte, war 1995. Zwar regnete es auch in diesem Jahr im September und beeinträchtigte die Lese des Merlot, doch für den Cabernet Sauvignon waren die Reife- und Lesebedingungen ausgesprochen gut.

Die beiden nachfolgenden Jahrgänge werden bis zum heutigen Tag kontrovers diskutiert: Im Jahr 1996 folgte auf einen heißen Sommer ein kühler Herbst, die kräftigen Säuren der Weine polarisieren. 1997 war das genaue Gegenteil: Der größte Teil der Vegetationsperiode war durchwachsen, dafür wurde es zur Lese warm und sonnig. Während der Primeur-Kampagne zeigten sich die Fassmuster dermaßen charmant, dass die Preise markant zu steigen begannen. Als jedoch zwei Jahre später bei der physischen Auslieferung der Weine offenbar wurde, dass der Jahrgang zwar durchaus rund und harmonisch, aber häufig auch etwas kernlos ausgefallen war, sanken die Preise wieder, und manch ein Händler, der aus spekulativen Gründen hohe Mengen eingekauft hatte, verlor viel Geld.

1998 regnete es spät im Herbst, sodass ein doppelgesichtiger Jahrgang die Folge war: sehr gut beim Merlot (und also vor allem am rechten Ufer), eher leicht im Médoc, wo die Cabernets erst nach dem Regen gelesen wurden. 1999 war eine Achterbahnfahrt: schon früh im Jahr Mehltau-Attacken, Juni und Juli heiß, wechselhafter August, und dann ein warmer September, der örtlich – vor allem im Libournais – mit Hagelstürmen endete. Entsprechend weit streuen die Resultate.

Kampf um die Dichte

Was ist nun der Geist dieses Jahrzehnts? Vonseiten der Ökonomie könnte man sagen: ein unerschütterlicher Glaube daran, dass die Preise immer weiter steigen werden und dass Robert Parker immer neue Kultweine entstehen lassen wird wie diejenigen aus der Reihe der »Garagenweingüter«. Der erste Jahrgang des Prototyps aller »Garagenweine«, Château Valandraud, war 1991.

Aber auch alteingesessene Güter wurden immer wieder Gegenstand von Neubewertungen. Das epochale Beispiel ist jenes des 1990ers von Château Montrose: Als Robert Parker diesen für damals rund 50 D-Mark in Subskription angebotenen Wein nach seiner physischen Auslieferung im Februar 1993 mit 100 Punkten bewertete, verdreifachte sich sein Preis praktisch über Nacht.

Aus stilistischer Sicht war das ganze Jahrzehnt geprägt vom Kampf um die Dichte der Weine. Ein Kampf, der von vielen Châteaux an zwei Fronten geführt wurde: Im Zentrum stand ganz klar der Weinberg – und der Versuch, hier so präzise wie möglich zu arbeiten, Pflanzenschutz, Ertragsregulierung und Laubarbeiten zu optimieren, um der Maxime von »Papa Peynaud« gerecht werden zu können. Denn immer und immer wieder hatte der Ende der Achtzigerjahre im Zenit seiner Popularität stehende Önologieprofessor gepredigt: Lasst eure Trauben reif werden!

Viele Motive, die mit verantwortlich sind für die Reiffruchtigkeit heutiger Bordeaux, haben ihre historische Wurzel darin, dass die Châteaux in den 1990ern begannen, ihre Weinberge mit anderen Augen zu sehen: eher wie Gärten als wie Plantagen.

Der Kampf um die Dichte wurde allerdings auch mit anderen Mitteln geführt. Spätestens seit dem Jahrgang 1989 machten Erzählungen die Runde, dass im Bordeaux technische Konzentrationsmaschinen erprobt würden. Mittels Umkehrosmose – oder durch Vakuumverdampfung – lässt sich frisch gepresstem Most Wasser entziehen. Der erzielbare Effekt – eine Verdichtung bei gleichzeitig steigendem Zucker- (also später Alkohol-)Gehalt – wurde zwar schon bald durch die Erderwärmung ad absurdum geführt. Noch Mitte der 90er-Jahre galt die Mostkonzentration allerdings in vielen Betrieben als State of the Art – und als willkommene Alternative zur altmodischen Technik des Chaptalisierens.

Auf dem »sozialen Planeten« Bordeaux brachten die Neunzigerjahre die ersten Anzeichen dafür, dass die alten Familien des Bordelaiser Weinadels immer größere Schwierigkeiten hatten, ihren Besitz zusammenzuhalten. Ein Aufsehen erregender Eigentümerwechsel vollzog sich ganz am Ende der Dekade, als die Familie Lur-Saluces, deren Vorfahren sich bis zum Jahr 1593 als Besitzer von Château d’Yquem zurückverfolgen lassen, Château und Weinberge veräußerten. Alexandre de Lur-Saluces, der Letzte seiner Familie als Regisseur auf dem Premier Cru »supérieur« aus Sauternes, hatte sich zwar lange gegen den Verkauf gestemmt, konnte sich aber nicht gegen die Mehrheit seiner Familie durchsetzen. Es heißt, dass der neue Inhaber Bernard Arnault und Alexandre de Lur-Saluces den Kauf schließlich im April 1999 mit einem Glas Yquem 1899 besiegelten.  

Damit gehörte Yquem nun zum LVMH- Konzern. Dass der Deal mit einem Zitat des vorherigen Jahrhundertwechsels im Glas geschlossen wurde, zeigt, dass Bordeaux nun reif war für den Millenniumshype.

Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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