Das Cloud Gate ist eines der zentralen Kunstwerke im Millennium Park von Chicago.

Das Cloud Gate ist eines der zentralen Kunstwerke im Millennium Park von Chicago.
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Chicago: Foodie City statt »Windy City«

Chicago erlebt einen Boom. Es schickt sich an, New York als kulinarische Hauptstadt der USA herauszufordern.

»Wer seinen Hotdog versauen will, soll das gefälligst selber machen!« Sagt Don Drucker von »Superdawg«, dem legendären Hotdog-Restaurant, das jeder Besseresser in Chicago kennt. Er meint: Wer Ketchup will, muss ihn sich selber drauf tun. »Superdawg« gibt es seit 1948. Seitdem kommen nur gelber Senf, neongrünes Relish, weiße Zwiebel, eingelegte Tomate und Jalapeño-Chilis in den »dawg«. Die Würstchen werden nach Geheimrezept aus Rindfleisch hergestellt – wegen der jüdischen Einwanderer. Für die Polen wurde der »Whoopskidawg« kreiert – mit geräucherter Wurst, karamellisierten Zwiebeln und BBQ-Sauce. Alle »Superdawgs« sind fantastisch. Eine Mundvoll Chicago. In dieser Stadt, so die Chicagoans, wurden Hotdogs erfunden.

Stadt der Sinne

Chicago fordert die Sinne. Böen blasen durch die Häuserschluchten der »windy city«. Das Rattern der Hochbahnen malträtiert die Ohren. Das gleißende Blau des Sees blendet den Blick. Schokoladenduft schmeichelt der Nase. Mitten in Chicago ist die größte Schokoladenfabrik der USA. Das riecht man oft! Es gibt eine »Daily Chocolate Smell Map«, die verrät wo. Chicago ist zu einem kulinarischen Hotspot geworden. »San Francisco haben wir hinter uns gelassen. Jetzt ist nur New York vor uns«, sagt Helmut Horn, deutschstämmiger Hotelier und Gründer des »Masters of Food and Wine«-Festivals. Chicago hat nicht nur jüdische und polnische Wurzeln. »Es gibt 76 Stadtteile«, so Gastro-Journalist Steve Dolinsky. »Wir haben das Schwedenviertel Anderson, das Tschechenviertel Pilsen. Es gibt Chinatown, die Viertel der Puerto Ricaner, Libanesen, Koreaner, Mexikaner.«

Vier Sorten Mole

Der beste Mexikaner, das »Topolobampo« ist in River North, das vor dreißig Jahren noch das Revier von Drogenhändlern war. Betrieben wird es von Rick Bayless, er hat im Weißen Haus den prominentesten Chicagoan bekocht: Barack Obama. Es gibt vier verschiedene Sorten Mole, der berühmten Sauce mit Schokolade: Mancha manteles, mole xico, mole poblano und mole negro, die zu Steak gegessen wird. Sie besteht aus Chilhuacle-, Mulato- und Pasilla-Chilis, Mandeln, Erdnüssen, Sesam, getrockneten Marillen, Rosinen, Kochbananen, Tomaten, Tortilla-Krümeln, Zuckerrohrsaft, Kräutern, gerösteten Chili-Samen und »xocolatl«. Hochkomplex, samtig, gut.

Japan am Eriesee

In einem alten Lagerhaus in Fulton liegt das japanische Restaurant »Momotaro«. Kultdesigner AvroKO hat den Raum gestaltet. Filigrane Holzelemente, weiße Stoffbahnen, loftige Atmosphäre. Man kann für hundert Dollar 150 Gramm Miyazaki-Beef vom Hibachi-Grill essen. Der Seeigel mit Shiso ohba ist ein geschmackliches Kunstwerk, die im Ganzen ausgelöste und gegarte Brasse ein handwerkliches. Ein Muss: Das Tatar von süßen japanischen Tomaten! Die werden dehydriert, mit Reisessig rehydriert und mit Tabasco angemacht. Dazu gibt es ausgebackene Buchweizennudeln und Creme aus Maui-Zwiebeln. Umami-Tsunami!

Alchemistenhöhle »Alinea«

Warum Chicago so in Bewegung ist? Gastro-Journalist Dolinsky meint: »Die Preise sind viel niedriger als in New York. Deswegen trauen sich Köche und Unternehmer, etwas Neues anzufangen. Und die Esser sind experimentierfreudiger.« Chicago ist die einzige Großstadt in den USA, wo es in den Fernsehnachrichten eine »food section« gibt – das ist Dolinskys Rubrik in den »ABC 7 News«.

Vorreiter der Foodie-Szene

Speerspitze dieser Erneuerung ist Grant Achatz mit seinem »Alinea«, einem Mekka für internationale Gastronauten. »Alinea« ist Varieté. Gänge heißen hier »Präsentationen«. Um die fünfzehn isst man an einem Abend. Fast alles ist hier dunkel: Boden, Wände, Tische, Polster – eine Alchemistenhöhle! Es gibt ein Lagerfeuer auf dem Tisch und ess­bare Installationen, die wie zerborstene Betonplatten aussehen. Wagyu-Würfel zischen auf einer dreihundert Grad heißen Eisenplatte. Zum Dessert kommt eine abwaschbare Tischdecke. Darauf richtet der Kellner Cremes von tropischen Früchten an. Man kann herummatschen, bis alles aussieht wie ein Jackson-Pollock-Bild. Oder so ähnlich. Zum Schluss kommt ein essbarer Ballon, der mit Helium gefüllt ist – einatmen, Mickymaus-Stimme.

Ständige Neuerfindung

Achatz ahnt, dass er etwas tun muss, damit das »Alinea« Avantgarde bleibt. Daher wird radikal umgebaut. Danach wird es mehrere Esszimmer geben, durch die man sich im Verlauf eines Menüs bewegt. In jedem Raum gibt es ein anderes Licht, andere Geräusche, andere Gerüche. 

Neue Ideen

Das überzeugendste Fine-Dining-Erlebnis haben wir im »El Ideas« in der West 14th Street in Pilsen, mit Lagerhäusern, Gleisen und Containern. Per Mail weisen die Betreiber an: »Bestellen Sie Ihren Uber-Wagen für die Rückfahrt im Voraus. Taxis kommen kaum in diese Gegend.« Röhren an der Decke, Betonfußboden, Vorhänge aus Korken. Man bringt seinen Wein mit; kein Korkgeld. Köche in Shorts sagen die Gänge an, die allesamt großartig sind. Hummergelee mit Macadamia und Blumenkohl, Kalbshaxen-Raviolo mit Anchovis und Birne. Foie gras mit Heidelbeeren und knusprigem Müsli. Keine anbiedernde »How are you today«-Freundlichkeit. Selten so relaxt gut gegessen.

Mehr zu Chicagos aufregender Gourmet-Szene finden Sie im Falstaff Magazin Nr. 08/2015.

Christoph Teuner
Christoph Teuner
Redakteur
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